Text: Medien.Rezeption

4.4 Was tut der*die Nutzer*in bei der Medienrezeption?

Auch während der Mediennutzung ist der*die Nutzer*in aktiv. Es werden Informationen verarbeitet, Emotionen und Unterhaltung erlebt. Die Nutzer*innen können sich mit den Medienfiguren auseinandersetzen und in die mediale Welt eintauchen (vgl. Trepte et al. 2021).

 Aufgabe

Bearbeiten Sie die folgende Aufgabe mithilfe des nachfolgenden Textes: Kognitionen und Erleben während der Mediennutzung

1. Kognitive Verarbeitung von Medienbotschaften

Nur die Teile der Medienbotschaft, die wahrgenommen und kognitiv verarbeitet wurden, können einen Einfluss auf das Erleben haben. Dabei stehen den Nutzer*innen limitierte Ressourcen zur Verfügung, die sie auf drei Verarbeitungsprozesse verteilen müssen: die Enkodierung, die Speicherung und den Abruf (Limited Capacity Model of Motivated Mediated Message Processing (LC4MP)).

Bei der Enkodierung wird die Medienbotschaft zunächst als mentale Repräsentation in das Arbeitsgedächtnis transferiert und ist so für kognitive Prozesse verwendbar. Ein Teil der ins Arbeitsgedächtnis übertragenen Inhalte wird für die längerfristige Nutzung in das Langzeitgedächtnis transferiert, wo sie mit bestehendem Wissen abgeglichen und eingeordnet werden (Speicherung). Dieser Schritt ist auch schon notwendig, um sich im Verlauf eines Filmes an den Beginn der Handlung und die Protagonist*innen zu erinnern. Beim Abruf nämlich werden fortlaufend Informationen aus dem Langzeitgedächtnis reaktiviert, um die aktuell zu enkodierende Sequenz zu verstehen. Der Abruf von Informationen spielt auch in der postkommunikativen Phase, also der Phase nach der Mediennutzung, eine Rolle für die Medienwirkung (s.u.). Die drei Teilprozesse der Informationsverarbeitung laufen also simultan ab und greifen ineinander. Ob die kognitiven Ressourcen dabei ausreichen oder nur mit Abstrichen auf die Prozesse verteilt werden können, hängt von der inhaltlichen Komplexität und Gestaltung des Medieninhaltes und damit vom Cognitive Load ab. Die Aufteilung (Allokation) der Ressourcen erfolgt dabei nach willentlichen und automatischen Prozessen. Bei der willentlichen Investition von kognitiven Ressourcen richten sich die Nutzer*innen nach ihren Zielen, Vorlieben und Vorerfahrungen. Bei der automatischen Zuweisung von kognitiven Ressourcen spielen die Eigenschaften des Medienstimulus eine Rolle. Intensive oder sich wandelnde Stimuli können eine Orientierungsreaktion hervorrufen und so die Wahrscheinlichkeit ihrer Verarbeitung erhöhen. Ebenso haben Emotionen einen Einfluss, denn eine erhöhte emotionale Erregung beim Medienkonsum führt zu einer höheren Wahrscheinlichkeit der Enkodierung. Dies verhält sich für verschiedene emotionale Valenzen, d.h. positive und negative Emotionen, unterschiedlich. Positive emotionale Stimuli wirken bei niedrigeren Erregungslevels stärker, während negative emotionale Stimuli bei mittleren und hohen Erregungslevels stärkere Auswirkungen auf die Informationsverarbeitung haben.

Bei kognitiver Überlastung (Cognitive Overload) kommt es zu einer unzureichenden Verarbeitung des Medieninhaltes. Eine Überlastung kann durch komplexe Inhalte, eine fordernde (multi-)mediale Gestaltung und auch Media Multitasking (Nutzung mehrerer Medien (teilweise) parallel, bspw. Messaging beim Fernsehen (Second-screening)) entstehen. Gerade in digitalen Medienumgebungen werden synchron viele verschiedene Inhalte präsentiert (z.B. Werbebanner und automatisch abspielende Videos in Nachrichtenartikeln), denen Nutzer*innen nicht die gleiche Aufmerksamkeit schenken können oder auch möchten (Wulf et al. 2023). Wenn Personen sehr stark fokussiert auf einen Medieninhalt und ihre kognitiven Ressourcen voll ausgeschöpft sind, dann nehmen sie selbst sehr zentral platzierte Werbebanner nicht mehr wahr (vgl. Wulf et al. 2023).

Nicht nur die Allokation von kognitiven Ressourcen, sondern auch die Verarbeitung selbst kann automatisch oder willentlich stattfinden (vgl. Wulf et al. 2023). Eine automatische Verarbeitung findet immer statt, während die kontrollierte Verarbeitung von Motivation, Fähigkeit, Aufmerksamkeit und Involviertheit abhängig ist. Eine Theorie, die ein solches Zwei-Prozess-Modell der Informationsverarbeitung abbildet, ist das Elaboration Likelihood Model (s.u.).

Eine besondere Rolle bei der Informationsverarbeitung während der Medienrezeption spielen Aufmerksamkeitsprozesse, nämlich bei der Wahrnehmung der Informationen selbst, der Verarbeitung im Arbeitsgedächtnis, der Reaktionsselektion und der Reaktionsausführung (vgl. Wulf et al. 2023). Die Aufmerksamkeit hat zwei zentrale Funktionen: die Auswahl relevanter Informationen aus einer Fülle an Reizen und den Abgleich der neu hinzukommenden Informationen mit bestehendem Wissen, wodurch Bedeutung generiert wird (vgl. Wulf et al. 2023). Die Aufmerksamkeit kann dabei von einem Stimulus erregt oder willentlich auf etwas gelenkt werden.

Stop and Think

Konzentrieren Sie sich bei der Mediennutzung auf ein Medium (bspw. einen Film) oder greifen Sie regelmäßig zu einer weiteren Beschäftigung (bspw. Second-screening, die Nutzung eines analogen Mediums oder auch eine Beschäftigung wie Sport oder Haushaltstätigkeiten)? Wie verändert sich dabei Ihre Aufmerksamkeit in Bezug auf die medialen Inhalte?

2. Emotionen und affektive Dispositionen

Zum emotionalen Erleben während der Medienrezeption gehören bspw. Angst und Furcht, z.B. bei Horrorfilmen, empathische Gefühle bezogen auf die Protagonist*innen oder Spannung, z.B. während eines Thrillers. So wie auch die kognitive Informationsverarbeitung von Emotionen, die während der Rezeption auftreten, beeinflusst wird, wird das emotionale Erleben beim Medienkonsum vornehmlich durch kognitive Ansätze erklärt. Das emotionale Erleben der Nutzer*innen ist von kognitiven Zuschreibungen abhängig (Appraisal-Theorie). Die Umwelt bzw. die Medieninhalte werden fortlaufend interpretiert und nach ihrer Valenz (positiv vs. negativ), ihrer Kontrollierbarkeit oder ihrer Kompatibilität mit sozialen und persönlichen Normen und Standards (z.B. Fairness) sowie den eigenen Zielen und Bedürfnissen bewertet. Diese Bewertungen lösen eine emotionale Reaktion hervor, die sich durch ihre Intensität, Verhaltenstendenzen (z.B. Flucht vs. Annäherung), physiologischen Reaktionen (z.B. Aktivierung des autonomen Nervensystems) und offenes Verhalten (z.B. Veränderung des Gesichtsausdrucks) auszeichnet. Andere kognitive Theorien der Emotionen gehen demgegenüber von genau dem gegenteiligen Ablauf aus. Auf die zuerst auftretenden emotionalen Reaktionen folgt eine kognitive Bewertung.

Eine besondere Form der emotionalen Reaktion auf Medieninhalte ist das empathische Mitfühlen mit den Medienfiguren. Eine Grundvoraussetzung für diese Auseinandersetzung mit den dargestellten Charakteren ist die Fähigkeit zur Empathie, d.h. die Fähigkeit, sich in jemand anderen auf Basis der Gesichtsausdrücke, Körpersprache oder Handlungen hineinzuversetzen. Die emotionalen Verbindungen zu den Charakteren können sowohl positiv als auch negativ sein, da die Nutzer*innen affektive Dispositionen auf Grundlage moralischer Urteile entwickeln (Affective Disposition Theory). Diese moralischen Urteile werden bei Wendungen im Narrativ immer wieder neu vorgenommen, und so können sich positive und negative emotionale Dispositionen im Laufe der Rezeption verändern. Für Charaktere, die die Nutzer*innen als moralisch einwandfrei einschätzen, wird auf einen positiven Ausgang hingefiebert. Für Charaktere, die als moralisch verwerflich beurteilt werden, wird auf eine gerechte Vergeltung gehofft. Die emotionalen Dispositionen sorgen so auch für das Entstehen von Spannungserleben, solange Ungewissheit besteht, ob die Wünsche und Erwartungen für den Handlungsverlauf eintreten werden.

3. Unterhaltungserleben

Das Unterhaltungserleben stellt einen allgemeinen positiven emotionalen Zustand dar, der in zwei Formen unterteilt werden kann: das hedonistisch positive Unterhaltungserleben mit positivem Affekt und Vergnügen (Enjoyment) und eine komplexere Wertschätzung für Medieninhalte (Appreciation). Unterhaltung ist dabei individuell und lässt sich auch auf Medieninhalte und Formate beziehen, die nicht im klassischen Wortsinn auf Unterhaltung ausgelegt sind (vgl. Wulf et al. 2023). Das Unterhaltungspotenzial ist auch unabhängig von der Art des Mediums (Film, Serie, Videospiel, Text etc.), in dem Sinne, dass alle diese Medien Unterhaltungserleben hervorrufen können. Weitere Definitionen von Unterhaltung können auch die hier aufgeführten kognitiven und emotionalen Reaktionen (s.o.) und Gefühle, Teil des medialen Geschehens zu sein (s.u.), umfassen (vgl. Wulf et al. 2023).

Stop and Think

Haben Sie manchmal das Gefühl, in die mediale Geschichte einzutauchen? Also haben Sie manchmal das Gefühl, hautnah dabei zu sein? Oder fühlen Sie mit den Protagonist*innen mit?


4. Gefühl, Teil des medialen Geschehens zu sein

Das Konzept der Transportation beschreibt die Erfahrung, kognitiv, affektiv und bildlich in eine Geschichte gezogen zu werden (vgl. Wulf et al. 2023). Eine wichtige Rolle für die Transportation spielen die (fiktiven) medialen Figuren. Nutzer*innen können mit ihnen in parasoziale, d.h. einseitige Interaktion treten. Dies führt zu einem höheren Spaß und Genuss beim Medienkonsum sowie bei wiederholter Nutzung auch zu einer parasozialen Beziehung mit einem Charakter. Das Ende dieser Beziehung (bspw. durch das Absetzen der Serie) kann Trennungsstress hervorrufen (vgl. Wulf et al. 2023). In den sozialen Medien weicht die Einseitigkeit der parasozialen Beziehung zwar teilweise auf, indem Influencer*innen bspw. auf Kommentare ihrer Follower*innen reagieren. Die Beziehungen werden aber weiterhin als parasozial bezeichnet (vgl. Wulf et al. 2023). Außerdem können sich Mediennutzer*innen auch mit Mediencharakteren identifizieren, sich also in die Perspektive des Charakters versetzen (vgl. Wulf et al. 2023). Diese Identifikation hängt vom Geschlecht des Mediencharakters und seinen als positiv bewerteten Eigenschaften ab (vgl. Wulf et al. 2023). Neben der Transportation gibt es eine Reihe weiterer theoretischer Konstrukte, die das Gefühl, Teil des medialen Geschehens zu sein, beschreiben können. Dazu gehören bspw. die Involviertheit, das Präsenzerleben und das Flow-Erleben.

Im unten dargestellten Elaboration-Likelihood-Modell stellt die Involviertheit eine wichtige Voraussetzung für die Art der Einstellungsbildung dar, denn je nach persönlicher Relevanz des Inhalts einer Medienbotschaft wird der Inhalt oberflächlich oder tief verarbeitet (s. u.). Bei der Medienrezeption wird die Involviertheit als Stärke der Verbindung sowie als Intensität der kognitiven und emotionalen Interaktion zwischen Nutzer*innen und Medieninhalt verstanden. Eine hohe Involviertheit bedeutet sowohl bei der Rezeption als auch bei der Einstellungsbildung, dass die Aufmerksamkeit auf die Medienbotschaft fokussiert ist. Die Folge ist eine vertiefte Informationsverarbeitung.

Das Präsenzerleben ist im Gegensatz zur Involviertheit ein spezifischeres Gefühl, Teil der medial vermittelten Welt zu sein. Dieses kann so intensiv sein, dass die Nutzer*innen sich nicht mehr bewusst sind, dass die mediale Situation nicht real ist (Illusion of Nonmediation). Das Forschungsinteresse am Präsenzerleben entstand zu Beginn v.a. aus Interesse an Technologie wie VR (Virtual Reality). Aber auch ein Buch, das weder eine besondere Lebendigkeit (Vividness) noch Interaktivität (Interactivity) aufweist, kann ein starkes Präsenzerleben auslösen. Für das Präsenzerleben sind v.a. die Konstruktion eines mentalen Modells des Medieninhaltes sowie die Motive und Eigenschaften der Nutzer*innen ausschlaggebend. Kognitive und emotionale Involviertheit trägt bspw. zum Präsenzerleben bei, indem es durch die vertiefte Verarbeitung ein mentales Modell begünstigt. Zudem unterscheiden sich Personen in ihrer Trait Absorption, also ihrer allgemeinen Neigung, sich intensiv auf mediale Situationen einzulassen. Bei Personen mit geringer Trait Absorption kann eine hohe Involviertheit einen starken Einfluss auf das Präsenzerleben nehmen. Bei Personen mit bereits hoher Trait Absorption hat die Involviertheit keinen so großen zusätzlichen Einfluss.

Das Flow-Erleben beschreibt das Eintauchen in Medieninhalte noch einmal anders. Es definiert sich v.a. durch eine so starke Fokussierung auf die Handlung, dass das Bewusstsein vollständig mit der Tätigkeit verschmilzt und das Zeitempfinden verloren geht. Die Handlung wird um ihrer selbst Willen ausgeführt (autotelisch) und verfolgt kein weiteres instrumentelles Ziel. Flow kann nur dann auftreten, wenn die Nutzer*innen in ihrer Kompetenz optimal gefordert sind (s.o. Selbstbestimmungstheorie der Motivation).

Stop and Think

Haben Sie manchmal das Gefühl, dass Sie sich durch Medienkonsum eine Auszeit aus Ihrem Alltag nehmen können?


5. Eskapismus

Menschen nutzen Medien, um vor den Belastungen und Anforderungen der realen Welt zu flüchten. In modernen Gesellschaften entstehen durch die alltägliche Ausübung von Rollen zahlreiche Spannungen. Um diese abzubauen, greifen Personen vermehrt zu Medieninhalten, die als »eskapistisch« beschrieben werden. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass sie Emotionen hervorrufen, von den Normen und Regeln der Realität ablenken, Vergnügen bieten und Sehnsüchte stellvertretend erfüllen. Durch den Konsum solcher Inhalte können Personen vorübergehend ihre »wirklichen« (Real Life) Probleme vergessen und in eine alternative Realität eintauchen. Im Vergleich zu anderen Formen des Eskapismus, bspw. dem Konsum von Alkohol, haben Medieninhalte den Vorteil, dass sie den Nutzer*innen nicht durch eine narkotisierende Wirkung die Rückkehr zur Realität erschweren. Spaß am Konsum von Medieninhalten, um vorübergehend Alltagsprobleme zu vergessen, wird daher nicht zwangsläufig als problematisches Mediennutzungsverhalten angesehen. Eskapismus kann als ein natürlicher Rückzug vor den Herausforderungen des Lebens betrachtet werden, solange er in einem angemessenen Rahmen bleibt und nicht die Fähigkeit beeinträchtigt, die Realität zu bewältigen (vgl. Batinic 2008; siehe Einheit Medien.Identität; Herausforderungen).

Take Home Message

Während der Nutzung werden die begrenzten mentalen Ressourcen der*des Nutzer*in beansprucht und es kommt zu einer selektiven kognitiven Verarbeitung und affektivem Erleben.