Nachteilsausgleich
Website: | OpenMoodle der Universität Bielefeld |
Kurs: | Digitale Barrierefreiheit an Hochschulen |
Buch: | Nachteilsausgleich |
Gedruckt von: | Gast |
Datum: | Donnerstag, 21. November 2024, 12:34 |
Beschreibung
Der Nachteilsausgleich ist ein rechtlich fest verankertes Instrument zur Herstellung chancengerechter Studienbedingungen. Können Studierende aufgrund individueller benachteiligender Lebensumstände das Studium oder bestimmte Leistungen nicht wie vorgesehen erbringen, so können unter bestimmten Voraussetzungen Nachteilsausgleiche in Anspruch genommen werden.
1. Allgemeines
Nachteilsausgleiche (NTA) im Studium sind ein wichtiges Instrument, um chancengleiche Teilhabe im Studium sicherzustellen und Diskriminierungen zu vermeiden. Nachteilsausgleiche stellen ein notwendiges Mittel dar, um streng vorgegebene Strukturen mit den individuellen Bedarfen der Studierenden zu vereinbaren. Diese fungieren nicht als „Vergünstigungen“ sondern laut UN-Behindertenrechtskonvention im Bildungsbereich als eine „angemessene Vorkehrung“.
Prinzipiell dürfen alle Studierenden, die aufgrund von temporären, länger andauernden oder dauerhaften Beeinträchtigung im Studium benachteiligt werden, einen Nachteilsausgleich beantragen.
Die Beeinträchtigung muss dafür zwar nachgewiesen werden, die amtliche Feststellung einer Behinderung ist dafür jedoch nicht entscheidend. Dazu gehören insbesondere Studierende mit Behinderungen einschließlich psychischer oder chronischer Erkrankung ebenso wie Legasthenie oder ADS/ADHS, Studierende im Mutterschutz sowie Studierende mit Kinderbetreuungs- sowie Pflegeverpflichtungen.
Nachteilsausgleiche gleichen individuelle und situationsbezogene Benachteiligungen aus und sind keine Bevorzugungen.
Die Studien- und Prüfungsordnungen vieler Studiengänge machen enge und verbindliche Vorgaben zum Studienverlauf, die Studierende mit Behinderung oder chronischer Erkrankung sowie Studierende mit Kind oder Pflegeverantwortung vor große Herausforderungen stellen können. Häufig ist es ihnen nicht möglich die zeitlichen und formalen Vorgaben des Studiums wie vorgesehen zu erfüllen, beispielsweise die vorgesehene Regelstudienzeit einzuhalten oder Prüfungen in der gleichen Form abzulegen, wie andere Studierende.
Die Benachteiligung durch fehlende Gestaltungsspielräume bei der Studienorganisation oder Leistungserbringungen, können mit geeigneten Maßnahmen in Form individueller Nachteilsausgleiche ausgeglichen werden. Dabei geht es um die Änderung der Rahmenbedingungen, um allen Studierenden das Absolvieren ihres Studiums unter gleichwertigen Bedingungen zu ermöglichen. Dies könnten zum Beispiel die längere Bearbeitungszeiten für Hausarbeiten, Klausuren und ähnlichen Leistungen sein oder die Nutzung von Hilfsmitteln wie z.B. Prüfungen am Computer zu schreiben. Auch eine Änderung der Prüfungsart kann einen möglichen Nachteilsausgleich darstellen, wenn es die Prüfungsordnung zulässt und im Modulhandbuch mehrere Prüfungsformate verankert sind. So können zum Beispiel schriftliche Prüfungen in mündliche gewandelt werden oder andersherum.
Grundsätzlich gilt, machen Studierende durch Vorlage eines ärztlichen Attestes glaubhaft, dass wegen individueller Lebensumstände nicht möglich ist, das Studium und die damit einhergehenden Leistungsnachweise in der vorgesehenen Form abzulegen, dann steht diesen ein Nachteilsausgleich zu.
Die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen darf nicht im Zeugnis vermerkt werden.
Die Arbeitshilfe "Nachteilsausgleich für Studierende mit Beeinträchtigungen" (PDF) dient dazu, Beauftragten und Berater*innen eine Orientierung zu bieten und rechtliche Grundlagen sowie Empfehlungen für die Anpassung von Studien- und Prüfungsbedingungen bereitzustellen.
2. Rechtliche Grundlagen
Der Anspruch auf Nachteilsausgleiche für Studierende mit Behinderungen und chronischen Krankheiten ist in einer Vielzahl von Gesetzen und Verordnungen verankert.
Aus den Artikeln 3 und 20 des Grundgesetzes gehen der Gleichheitsgrundsatz, das Benachteiligungsverbot für behinderte Menschen und das Sozialstaatsprinzip hervor. So heißt es: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. (...) Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden" (Artikel 3 Abs. 1 und Abs. 3 Satz 2 Grundgesetz) und „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat" (Artikel 20 Grundgesetz).
Bekräftigend stellt auch die UN-Behindertenrechtskonvention in § 24 Absatz 5 das Recht behinderter Menschen auf chancengerechten Zugang zur Hochschulbildung heraus: „Die Vertragsstaaten stellen sicher, dass Menschen mit Behinderungen ohne Diskriminierung und gleichberechtigt mit anderen Zugang zu allgemeiner Hochschulbildung, Berufsausbildung, Erwachsenenbildung und lebenslangem Lernen haben. Zu diesem Zweck stellen die Vertragsstaaten sicher, dass für Menschen mit Behinderungen angemessene Vorkehrungen getroffen werden" (§ 24 Absatz 5 UN-BRK).
Das Hochschulrahmengesetz verpflichtet die staatlichen und staatlich anerkannten Hochschulen für die chancengleiche Teilhabe behinderter Studierender zu sorgen. Dafür sieht es unter anderem ausdrücklich modifizierte Studien- und Prüfungsbedingungen vor. So heißt es „Die Hochschulen wirken an der sozialen Förderung der Studierenden mit; (...). Sie tragen dafür Sorge, dass behinderte Studierende in ihrem Studium nicht benachteiligt werden und die Angebote der Hochschule möglichst ohne fremde Hilfe in Anspruch nehmen können" (§ 2 Abs. 4 HRG) und „Prüfungsordnungen müssen die besonderen Belange behinderter Studierender zur Wahrung ihrer Chancengleichheit berücksichtigen" (§ 16 S. 4 HRG). Die Vorgaben des Hochschulrahmengesetzes wurden größtenteils formulierungsgleich in den Hochschulgesetzen der Länder übernommen.
Das Hochschulrahmengesetz und die Hochschulgesetze der Länder legen fest, dass Prüfungsordnungen Maßnahmen zur Berücksichtigung der Belange von Studierenden mit Behinderungen und chronischen Krankheiten vorsehen. Als Teil der Akkreditierung müssen Studiengänge also konkrete Maßnahmen zum Nachteilsausgleich festlegen. In den Richtlinien des Akkreditierungsrates zur Akkreditierung von Studiengängen ist explizit festgelegt, dass akkreditierte Studiengänge für behinderte Studierende studierbar sein müssen und dass Nachteilsausgleiche hinsichtlich zeitlicher und formaler Vorgaben im Studium sowie bei allen abschließenden oder studienbegleitenden Leistungsnachweisen sichergestellt sein müssen.
Eine beglaubigte gesundheitliche Beeinträchtigung oder amtlich festgestellte Behinderung allein begründet noch keinen Anspruch auf Nachteilsausgleich. Es kommt entscheidend darauf an, wie sich die Beeinträchtigung oder Behinderung im Studium und bei Prüfungen auswirkt. Wer grundsätzlich nicht studierfähig ist, hat keinen Anspruch auf Nachteilsausgleich.
Mehr zu gesetzlichen Regelungen zum Thema Nachteilsausgleich sind beim Deutschen Studierendenwerk zu finden. Dort findet sich auch eine Aufschlüsselung der verschiedenen landesrechtlichen Regelungen.
3. Prüfungen und Leistungsnachweise
Viele Studierende mit individuellen Studienerschwernissen können Prüfungen und Leistungsnachweise nicht in der vorgegebenen Zeit oder Form erfüllen. Um zu ermöglichen, dass sie unter gleichen Erfolgschancen Prüfungs- und Leistungsnachweise erbringen können, können Nachteilsausgleiche in Form von zeitlich oder formal modifizierten Bedingungen eingesetzt werden.
Nachteilsausgleiche sind immer Einzelfallentscheidungen, die individuell und situationsbezogen ausgehandelt werden müssen. Verbindliche Vorgaben gibt es nicht, da die Notwendigkeit und Gestaltungsmöglichkeiten immer unterschiedlich sind. Orientierung können jedoch die folgenden bewährten Möglichkeiten bieten:
- Verlängerung von Schreibzeit/Vorbereitungszeit
- Verlängerung von Fristen zur Abgabe
- Verlängerung der Prüfungszeit (um die anfallende Pausenzeit)
- Prüfung in separaten Räumen mit eigener Aufsicht
- Aufteilen von Studienleistungen in Einzelabschnitte
- Erlaubnis zur Nutzung von Hilfsmitteln und Assistenzen
- Bereitstellung von adaptiven Prüfungsunterlagen
- Nichtberücksichtigung von Rechtschreibfehlern
- Verschieben von Prüfungsterminen
- Nichtberücksichtigung von behinderungsbedingten Prüfungsrücktritten
- Änderung der Prüfungsform
Bei alternativen Prüfungsformen ist es wichtig, dass die gleichen Kompetenzen geprüft werden. Das jeweilige in der Prüfungsordnung oder Modulbeschreibung festgelegte Qualifikationsziel (Kompetenzziel) muss dabei im Blick gehalten werden. In begründeten Fällen sollte es jedoch möglich gemacht werden, mündliche Prüfungen in schriftliche Prüfungen (oder umgekehrt), Hausarbeiten in Referate (oder umgekehrt) und Gruppenprüfungen in Einzelprüfungen umzuwandeln.
Ich hatte mal in einer Klausur eine [Studentin] mit einer Sehbeeinträchtigung. Die hatte einen Nachteilsausgleich bekommen bzw. hatte die Möglichkeit über die Vertreterin für Studierende, dass in der Klausur die Schriftgröße angepasst wurde und dass sie noch mehr Zeit hatte.1
Bei der Klärung, ob die Auswirkungen von Beeinträchtigungen inhaltliche Prüfungsrelevanz haben, können insbesondere folgende Einschätzungen helfen:
- Informationen über die Qualifikations- bzw. Lernziele, vor allem durch die Modulbeschreibungen. Dadurch wird klar, was Studierende zum Abschluss eines Moduls wissen, können und beherrschen müssen bzw. welche fachlichen, methodischen und sozialen Kompetenzen sie erworben haben sollen.
- Einschätzungen von Studiengangsleitungen, Modulverantwortlichen und Prüfer*innen – im Idealfall in Kooperation mit Beauftragten und Berater*innen für Studierende mit Beeinträchtigungen
Nicht alle beeinträchtigungsbedingten Auswirkungen sind kompensierbar: Studierende müssen grundsätzlich in der Lage sein, die studienrelevanten Kompetenzen zu erwerben und in Prüfungen nachweisen.
Eine von Prüfungsorganen und zum Teil von Beauftragten und Berater*innen für Studierende mit Beeinträchtigungen gewünschte Übersicht, in der bestimmten Formen von Beeinträchtigungen eindeutig und abschließend bestimmte Maßnahmen zugeordnet werden, kann es daher leider nicht geben. Der Wunsch nach solchen Vorgaben ist zwar nachvollziehbar, jedoch fachlich kaum zu begründen. Die Auswirkungen vielfältiger individueller Beeinträchtigungen in Wechselwirkung mit vielfältigen Bedingungen in den Studiengängen lassen sich nur im Einzelfall beurteilen.
Stellen Sie einen Leitfaden zum Thema Nachteilsausgleich zur Verfügung.
Berücksichtigen Sie bei der Konzeption von neuen Studiengängen und Akkreditierung die Bedürfnisse von Studierenden mit Behinderung.
Good Practice:
- Die TH Köln stellt einen umfangreichen Leitfaden für Nachteilsausgleiche bereit.
4. Organisation und Durchführung des Studiums
Nicht nur in konkreten Prüfungssituationen brauchen Studierende Nachteilsausgleiche. Die häufig starren Studienordnungen und Vorgaben bezüglich des Studienverlaufs kollidieren nicht selten mit den persönlichen Umständen von Studierenden. Daher können ebenfalls Nachteilsausgleiche bezüglich der Organisation und Durchführung des Studiums notwendig sein.
Auch für die Gestaltung der Nachteilsausgleiche bezüglich der Organisation und Durchführung des Studiums gibt es keine verbindlichen Vorgaben, sondern individuelle Einzelfallentscheidungen. Hilfreich ist es dabei immer, die betroffenen Studierenden in die Ausgestaltung der Nachteilsausgleiche mit einzubeziehen – häufig wissen sie selbst gut, welche Maßnahmen hilfreich für sie sind.
Die Notwendigkeit und Ausgestaltung von Nachteilsausgleichen können bei gleicher Beeinträchtigung sehr unterschiedlich ausfallen. Die jeweiligen Bedingungen am Studienort und die jeweiligen Anforderungen des Studienfachs inklusive der Prüfungsbedingungen spielen dabei eine entscheidende Rolle.
Mögliche Maßnahmen sind:
- Individueller Studienverlaufsplan
- Teilzeitstudium
- Zulassung zu Lehrveranstaltungen unter Vorbehalt
- Bevorzugte Zulassung
- Modifikation von Anwesenheitspflichten
- Modifikation im Zusammenhang mit Laboren, Praktika, Auslandsaufenthalten und Exkursionen
- Räumliche Verlegung von Lehrveranstaltungen
- Anschaffung angemessener Ausstattung
Eine detaillierte Ausführung der verschiedenen Maßnahmen finden Sie auch auf der Homepage des Studierendenwerks.
Beziehen Sie die betroffenen Studierenden in die Ausgestaltung des Nachteilsausgleichs ein.
Informieren Sie sich über Alternativen zu vorgegebenen Anforderungen und Prüfungsbedingungen.
Good Practice:
- Die TH Köln stellt in dem Leitfaden Nachteilsausgleich für Lehrende und Beschäftigte alle wichtigen Informationen dar.
- Die Universität Leipzig hat mögliche Ansatzpunkte und Beispiele für Nachteilsausgleiche als Orientierung veröffentlicht.
- Mittels einer Studienassistenzvermittlung wird an der Uni Marburg Studierenden mit Behinderungen oder chronischen Erkrankungen die Suche nach geeigneten Studienassistent*innen erleichtert.
5. Antragsverfahren
Für die Beantragung eines Nachteilsausgleiches sind die Studierenden selbst verantwortlich. Sie können sich aber zum Beispiel durch den/die Beauftragte für Studierende mit Behinderung und chronischer Erkrankung unterstützen lassen.
Um den Studierenden auf dem Weg zu einem Nachteilsausgleich die Hürden zu nehmen, ist es wichtig, dass alle wichtigen Informationen öffentlich bereitgestellt werden und der Antrag im besten Fall durch eine kompetente Beratung begleitet wird. Die Erfolgskriterien für die Studierenden sollten dabei transparent kommuniziert werden.
Im Prozess der Antragstellung gilt es einige Aspekte zu beachten, die in der Beratung mit den Studierenden thematisiert werden können:
Den Studierenden sollte daher grundsätzlich geraten werden, früh genug Kontakt mit dem zuständigen Prüfungsamt, bzw. der/dem Lehrenden aufzunehmen, um sicherzustellen, dass die notwendigen Schritte rechtzeitig eingeleitet werden können und eine reibungslose Umsetzung der gewährten Nachteilsausgleiche möglich ist.
Treten prüfungsrelevante Einschränkungen kurzfristig und unvorhergesehen vor einer Prüfung oder während einer Abschlussarbeit auf, können und müssen Nachteilsausgleiche – sofern organisatorisch möglich – auch kurzfristig bewilligt werden.
Nachteilsausgleiche müssen für jede Verantstaltung und Prüfung neu beantragt werden, was mit einem organisatorischen Aufwand verbunden ist. Dennoch sollte den Studierenden geraten werden, Anträge auf Nachteilsausgleich immer schriftlich zu stellen. Studierende sollten sich nicht auf mündliche Absprachen verlassen.
Der Antrag auf Nachteilsausgleich muss keine Diagnose enthalten, jedoch muss verständlich klargemacht werden, wie die individuelle Beeinträchtigung das Studium erschwert und durch welche Arten von Nachteilsausgleich Chancengleichheit hergestellt werden kann. Die Studienerschwernis sollte durch Gutachten und Atteste belegt werden.
Nachteilsausgleiche können zurückgezogen werden, wenn es eine Besserung im Gesundheitszustand gibt.
Im Prozess des Nachteilsausgleichs sollte darauf geachtet werden, dass sogenannte "Doppelrollen" vermieden werden. Die Person, die Studierende berät und informiert, sollte also nicht auch die Person sein, die am Ende den Antrag prüft und über eine Zu- oder Absage entscheidet.
Die Best3-Studie zeigt: nur rund 21% der Studierenden mit beeinträchtigungsbezogenen Schwierigkeiten haben individuelle Anpassungen oder Nachteilsausgleiche beantragt.
Stellen Sie Informationen leicht auffindbar bereit.
Kommunizieren Sie Erfolgskriterien transparent.
Beraten Sie Studierende bei der Beantragung eines Nachteilsausgleichs.
Vermeiden Sie Doppelrollen im Prozess der Nachteilsausgleiche.
Überlassen Sie die Entscheidung über die Genehmigung oder Absage eines Nachteilsausgleichs keinen Einzelpersonen.
Erstellen Sie eine Übersicht mit Möglichkeiten zum Nachteilsausgleich.
Good Practice:
- Die TH Köln hat in ihrer Handreichung für Lehrende ein übersichtliches Schaubild (S.9) zu dem gesamten Verfahren.
- Der Leitfaden für Lehrende der Jade Hochschule enthält im Anhang einen Antrag auf Nachteilsausgleich, der als Orientierung/Vorlage auch an anderen Hochschulen genutzt werden kann.
Beauftragte und Berater*innen sollten ggf. präventiv zum Widerspruchsverfahren informieren und mitteilen, ob und wie sie in diesem Fall Studierende unterstützen können oder nicht.