2. Inklusionspädagogische Grundlegung für adaptive Lehrkompetenz

Website: OpenMoodle der Universität Bielefeld
Kurs: Adaptive Lehrkompetenz für inklusiven Unterricht
Buch: 2. Inklusionspädagogische Grundlegung für adaptive Lehrkompetenz
Gedruckt von: Gast
Datum: Donnerstag, 21. November 2024, 12:38

Beschreibung

Im Anschluss an die Zitronenübung erfahren Sie hier mehr über die Intention der Übung.

Der Text in diesem Moodle-Buch stammt von Dietlind Gloystein und wurde nur im Rahmen dieses Kurses veröffentlicht.

Homogenisierung und Individualisierung

Das Bild zeigt eine Denkwolke als Symbolbild für Nachdenken.Das Bild zeigt zwei Hände mit ausgestreckten Fingern als Symbolbild für Handeln.Das Bild zeigt einen Stift als Symbolbild für Schreiben.

Wie Sie in der Transferphase sicherlich erkannt haben, stehen im Schulalltag Prozesse der Homogenisierung, Kategorisierung und Verallgemeinerung Prozessen des Kennenlernens von Einzigartigkeit und Wahrnehmung sowie auch der Wertschätzung von individuellen Besonderheiten gegenüber.

So wie jede Zitrone bei näherem Kennenlernen anders ist, obwohl es doch alles Zitronen sind, so ist es auch mit Menschen bzw. Kindern und Jugendlichen. Eine angemessene Einschätzung erfordert genaues Hinsehen und Kennenlernen!

Die Methode Zitronenübung dient in diesem Zusammenhang als Einstieg in das Thema Vielfalt sowie zum bewussten und reflektierten Umgang mit Stereotypen und Vorurteilen. Sie soll für die notwendige Reflexion eigener Vorannahmen sowie den eigenen pädagogischen Umgang mit Schüler:innenmerkmalen sensibilisieren.

Heterogenitätssensibilität (HetSens)

Heterogenität und Heterogenitätssensibilität

Der produktive Umgang mit der Heterogenität schulischer Lernausgangslagen ist zu einer Schlüsselqualifikation für Lehrkräfte und für Institutionen geworden (Hertel 2014, S. 12; Widmer-Wolf und Sieber-Suter 2014, S. 126f.). Die Vorstellung von einer so genannten homogenen Lerngruppe, in der alle Schüler:innen einer Altersgruppe das gleiche Ausgangsniveau aufweisen, gilt als überholt (Altrichter und Hauser 2007, S. 6). Heute wird von Lehrpersonen erwartet, dass sie die Individualität von Schüler:innen zum Ausgangspunkt pädagogischer Prozesse machen.

Unter dem Begriff der Heterogenität werden nach Prengel und Heinzel (2012, o.S.) „Verhältnisse zwischen Verschiedenen, die einander nicht untergeordnet sind, gefasst“. Seit der Jahrtausendwende wird der Begriff Heterogenität in der Erziehungswissenschaft vorrangig von der Schulpädagogik aufgegriffen und verweist konzeptionell auf die Verschiedenheit von Individuen und entsprechenden Konsequenzen für die Unterrichtsgestaltung (Walgenbach 2017, S. 12). Hinsichtlich der Bedeutungsdimension unterliegt der Begriff Widersprüchlichkeiten und keiner neutralen Bewertung: Heterogenität wird als Belastung oder Chance für Entwicklung wahrgenommen (ebd., S. 25).

Gröhlich et al. (2009, S. 87) zählen zu Heterogenität „sowohl soziale oder kulturelle Unterschiede als auch die divergenten leistungsbezogenen Ausgangsbedingungen der Schülerschaft“ und beziehen sich damit auf die beiden aktuell existierenden Diskurslinien. Hinsichtlich der soziokulturellen Heterogenität werden Differenzkategorien, wie soziale Herkunft, Migration, Gender, Ethnizität, Behinderung, sowie die Wahrnehmung dieser Kategorien durch die Lehrkraft ausgemacht.

Das Bild zeigt eine Schüler:innengruppe.

Bildtext: Heterogenität der Lerngruppe kann sich beziehen auf: Alter, Arbeitshaltung, Lerntempo, Interessen, Familie, Vorkenntnisse, Religion, Gesundheit, Sprache, Lernstil, Entwicklung, Geschlecht, Soziale Herkunft, Ethnische Herkunft etc.

Bei der Bandbreite der Aspekte besteht Unklarheit darüber, welche Dimensionen von Heterogenität im Unterricht Berücksichtigung finden sollen und welches Wissen darüber als relevant erscheint. Die kognitive, leistungsbezogene Heterogenität wird oftmals in Verbindung mit der Entwicklung von Förder- und Differenzierungsmaßnahmen gebracht. Der Umgang mit (leistungsbezogener) Heterogenität hat sich zum zentralen Punkt der Lehrkräftebildung entwickelt (vgl. Gloystein und Barth 2020, S. 115).

Forschungsergebnisse zu Differenzkonstruktionen konnten belegen, dass Lehrkräfte weiterhin „ihre Unterrichtsgestaltung an dem Ziel, eine homogene Lerngruppe zu formen“ (Sturm 2010, S. 153), ausrichten. Damit wird ein Leistungsniveau für alle angestrebt, wobei die Berücksichtigung von Differenz als Grundlage unterrichtlichen Handelns entfällt.

Zur Wirkung kommen hier – ungeachtet der Besonderheit jeder Differenzordnung (Geschlecht, ethnische Herkunft etc.) – Hintergrunderwartungen sowie Macht- und Dominanzstrukturen. Auch wird in der Fachwelt ein Denken in „unscharfen und abwertenden“ (Felkendorff und Luder 2015, S. 53f.) Kategorien wie Behinderung, Armut und Migration zunehmend negativ konnotiert, da sie durch Bewertungen und negativen Zuschreibungen wie Einschränkungen, Schwächen oder Unfähigkeit stigmatisierend und diskriminierend wirken (vgl. Gloystein 2020, S. 54).

HetSens als Gatekeeper

Sensibel sein für Verschiedenheit

Inklusion ist untrennbar mit der gleichberechtigten Teilhabe aller am pädagogischen Angebot verbunden. Geht es um die bestmögliche Bildung und Persönlichkeitsentfaltung aller Kinder und Jugendlichen, verlangt Inklusion eine vorbehaltlose Anerkennung: Alle sind verschieden, haben dabei aber die gleichen Rechte (vgl. Prengel 2015, S. 185f.). Um Diskriminierung abzubauen, zu vermeiden sowie bestmögliche Bedingungen für die individuelle Kompetenzentwicklung von Lernenden zu gewährleisten, müssen Lehrkräfte einen sensiblen Bezug und eine Haltung zu Diversität entwickeln. Um „das Potential, das in der Unterschiedlichkeit liegt, zu erkennen und daraus resultierende Möglichkeiten zum Wohle der Einzelnen und der Gesamtheit zu nutzen“ (Gloystein und Barth 2020, S. 116f.), bedarf es einer professionellen Kompetenz oder zumindest einer Sensibilität für Heterogenität.

Sie fungiert bei konzeptioneller Erweiterung des Konstrukts der adaptiven Lehrkompetenz (vgl. Beck et al. 2008; Brühwiler 2014) als sogenannter „Gatekeeper“ (Gloystein 2020, S. 52), denn schließlich gilt es, dem formulierten Anspruch der „situations- und kontextsensitiven Orchestrierung“ (Beck et al. 2008, S. 47) adaptiver Lehrkompetenz auch unter der Prämisse der Heterogenitätssensibilität nachzukommen und damit der Voraussetzung zu entsprechen, um Unterricht erfolgreich und unter Vermeidung (un-)willkürlicher Diskriminierung zu gestalten (vgl. Gloystein 2020, S. 52). Ziel dabei ist immer die Teilhabe aller, verbunden mit einem angemessenen Umgang mit sozialer, geschlechtlicher, kultureller, religiöser etc. Differenz.

Literaturverzeichnis

Altrichter, H. & Hauser, B. (2007). Umgang mit Heterogenität lernen. Journal für Lehrerinnenbildung 7 (1), 4–11.

Beck, E., Baer, M., Guldimann, T., Bischoff, S., Brühwiler, C., Müller, P. et al. (Hrsg.). (2008). Adaptive Lehrkompetenz. Analyse und Struktur, Veränderbarkeit und Wirkung handlungssteuernden Lehrerwissens (Pädagogische Psychologie und Entwicklungspsychologie, Bd. 63). Münster: Waxmann.

Felkendorff, K. & Luder, R. (2015). Schulsysteme und Behinderung. In R. Luder, A. Kunz & C. Müller Bösch (Hrsg.), Inklusive Pädagogik und Didaktik (Studienbuchreihe der Pädagogischen Hochschulen Zürich, Luzern und Thurgau, 2., korrigierte Auflage, S. 22–29). Zürich: Publikationsstelle der PH Zürich.

Gloystein, D. (2020). Der Baustein Heterogenitätssensibilität: inklusionspädagogische Grundlegung für adaptive Lehrkompetenz. In E. Brodesser, J. Frohn, N. Welskop, A.-C. Liebsch, V. Moser & D. Pech (Hrsg.), Inklusionsorientierte Lehr-Lern-Bausteine für die Hochschullehre. Ein Konzept zur Professionalisierung zukünftiger Lehrkräfte (Interdisziplinäre Beiträge zur Inklusionsforschung, S. 62–75). Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

Gloystein, D. & Barth, U. (2020). Diversitätskategorien denken – Ein neues Grundprinzip in der Diagnostik. In T. Dietze, D. Gloystein, V. Moser, A. Piezunka, L. Röbenack, L. Schäfer et al. (Hrsg.), Inklusio - Partizipation - Menschenrechte. Transformation in die Teilhabegesellschaft? (S. 112–120). Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

Gröhlich, C., Scharenberg, K. & Bos, W. (2009). Wirkt sich Leistungsheterogenität auf den individuellen Lernerfolg in der Sekundarstufe aus? Journal for educational research online 1 (1), 86–105.

Hertel, S. (2014). Adaptive Lerngelegenheiten in der Grundschule. Merkmale, methodisch-didaktische Schwerpunktsetzungen und erforderliche Lehrerkompetenzen. In B. Kopp, S. Martschinke, M. Munser-Kiefer, M. Haider, E.-M. Kirschhock, G. Ranger et al. (Hrsg.), Individuelle Förderung und Lernen in der Gemeinschaft (S. 19–34). Wiesbaden: Springer VS.

Prengel, A. (2015). Pädagogik der Vielfalt: Inklusive Strömungen in der Sphäre spätmoderner Bildung. Erwägen Wissen Ethik 26 (2), 157–168. http://​www.uni-potsdam.de​/​uploads/​media/​Prengel_​EWE_​Hauptartikel_​02.pdf.

Prengel, A. & Heinzel, F. (2012). Heterogenität als Grundbegriff inklusiver Pädagogik. Zeitschrift für Inklusion (3). https://​www.inklusion-online.net​/​index.php/​inklusion-​online/​article/​view/​39/​39. Zugegriffen: 20. September 2021.

Sturm, T. (2010). Differenzkonstruktion im Kontext unterrichtlicher Praktiken. In J. Schwohl & T. Sturm (Hrsg.), Inklusion als Herausforderung schulischer Entwicklung. Widersprüche und Perspektiven eines erziehungswissenschaftlichen Diskurses (Theorie Bilden, Bd. 20, S. 141–158). Bielefeld: Transcript.

Walgenbach, K. (2017). Heterogenität - Intersektionalität - Diversity in der Erziehungswissenschaft (UTB, Bd. 8546, 2., durchgesehene Auflage). Opladen: Verlag Barbara Budrich.

Widmer-Wolf, P. & Sieber-Suter, B. (2014). Eine Sammlung berufsspezifischer Kompetenzen für das Berufsfeld Schule. In B. Sieber-Suter (Hrsg.), Kompetenzmanagement. Erfahrungen und Perspektiven zur beruflichen Entwicklung von Lehrenden in Schule und Weiterbildung (1. Auflage, S. 108–144). Bern: Hep der Bildungsverlag.