4. Diagnostik im inklusivem Kontext

Website: OpenMoodle der Universität Bielefeld
Kurs: Adaptive Lehrkompetenz für inklusiven Unterricht
Buch: 4. Diagnostik im inklusivem Kontext
Gedruckt von: Gast
Datum: Donnerstag, 21. November 2024, 12:37

Beschreibung

Im Anschluss an die zweite Übung erfahren Sie hier mehr über die Intention der Übung.

Der Text in diesem Moodle-Buch stammt von Dietlind Gloystein und wurde nur im Rahmen dieses Kurses veröffentlicht.

Transfer: Übung 2

Liebe Studierende,

Sie haben mit der Teilnahme an der Übung 2 an einem Experiment teilgenommen. Haben Sie vielen Dank dafür und auch für das Vertrauen, das Sie uns damit entgegenbringen.

Mit der vorgegebenen Aufgabe haben wir Sie in eine diagnostische Situation versetzt. Es war die Einführung in ein Diagnoseverfahren, wie es sich möglicherweise an Schulen abspielen kann:

  • ohne weitere Erklärungen,
  • ohne Angaben der Rollenverteilungen und -aufgaben,
  • ohne Infragestellung von Macht- und Hierarchiestrukturen,
  • ohne Angaben zum Einsatz diagnostischer Verfahren und
  • mit verdeckten diagnostischen (Beobachtungs-)Aufträgen.

Aber von vorn: Weshalb sollten Sie sich dieser Aufgabe überhaupt unterziehen?

Haben wir Sie nicht in eine Situation geschickt, die seit Jahrzehnten in Schulen gelebter Alltag ist? Und die auch Sie aus Ihrer eigenen Schulzeit zu Genüge kennen, aber wohl nicht damit gerechnet haben, gleich zu Beginn eines Seminars – außerhalb einer Prüfung – in eine solche Situation zu geraten?

Müssen diagnostische Situationen oder Momente nicht verdeckt ablaufen, wenn sie diagnostischen Gütekriterien wie Objektivität genügen sollen, um „angemessen“ und genau erhoben zu werden und damit Gültigkeit zu besitzen?  Soll dieses „bewährt traditionelle“ Praxis an dieser Stelle hinterfragt werden? Was soll daran falsch sein?

Stellen Sie dazu eigene Überlegungen an!

Auswertung 1

Zum Abschluss der Übung haben Sie einige Reflexionsfragen beantwortet. Es folgt nun eine exemplarische Beantwortung sowie die Einordung in den übergeordneten Diskurs zu einer an Inklusion orientierten Diagnostik.

Für die Durchführung der diagnostischen Übung wurde eine relativ bekannte und – aus dem Gedächtnis heraus – nicht gerade einfach zu zeichnende Figur gewählt.

Rey-Figur

Die Figur wurde 1941 von André Rey entwickelt. Der Rey Osterrieth Complex Figure Test (ROCF) stellt ein Testverfahren dar, das neben einer Vielzahl unterschiedlicher Fähigkeiten, wie z. B. Planen, Organisieren, Problemlösen, auch Gedächtnisfunktionen untersucht. Im Vordergrund stehen hierbei das non-verbale und das räumliche Gedächtnis.

Hierzu ein Hinweis: Die Durchführung der Übung entspricht nicht den Durchführungsvorgaben des ROCF und wird hier in diesem Zusammenhang lediglich für Übungszwecke genutzt.


Was glauben Sie, mit welchem diagnostischen Ziel wurde diese Übung durchgeführt?

Fachdidaktisch relevant für fast alle  Fächer, aber besonders  für Mathematik, Informatik , AWT-Berufswahlunterricht und Kunst etc., setzt diese diagnostische Überprüfungsaufgabe möglicherweise den Schwerpunkt auf die Diagnose der visuellen Fähigkeiten, z. B. der visuellen Teilleistungsfähigkeiten, wie den Basisleistungen, der Objektwahrnehmung und visuell-räumlichen Wahrnehmung.

Ein weiterer diagnostischer Anlass könnte im Konzept der sonderpädagogisch/psychologisch verordneten Leistungsdiagnostik, verbunden mit entsprechenden diagnostischen Strategien und Zielsetzungen, verankert sein.

Es gibt noch viele weitere diagnostische Begründungzusammenhänge, die an dieser Stelle aufgeführt werden könnten. Bedeutsam ist zu erwähnen, dass dabei – wenn nicht im Vorfeld abgesprochen – die Vorstellungen und Erwartungen über den Überprüfungsanlass zwischen den zu Überprüfenden und der/dem Prüfer:in variieren können. In der Konsequenz könnte es zu verzerrten Überprüfungsergebnissen kommen, was aber an keiner Stelle thematisiert wird, da kein gemeinsamer Austausch über die Situation stattfindet.

So ist es oftmals Testteilnehmenden nicht einmal bewusst, dass sie sich in einer Testsituation und unter Beobachtung befinden, was mangels fehlender Anstrengungsbereitschaft zu einem schlechteren Überprüfungsergebnis führen kann.

Auswertung 2

Wie sind Sie mit der Lösung der Aufgabe zurechtgekommen?

Je nach Interesse, Motivation, Fertig- und Fähigkeiten ist Ihnen die Bearbeitung der gestellten Aufgabe leicht oder möglicherweise auch schwergefallen.

Es gab keine Differenzierung in der Aufgabenstellung. Wie konnten die Menschen mit einer Sehbeeinträchtigung die Aufgabe lösen? Oder auch Menschen, denen das Lesen von Arbeitsanweisungen aus den unterschiedlichsten Gründen, wie z. B. sprachlicher Barrieren, schwerfällt? Eine motorische Beeinträchtigung oder auch einfach an anderes Zeitgefühl kann dazu führen, dass der eng gesteckte Zeitrahmen Stress und Unsicherheit in der Umsetzung zu Folge hatte. Zur Bearbeitung der Aufgabe gehörte auch die Dokumentation der Arbeitsleistung. Im Vorfeld wurde nicht sichergestellt, ob alle Teilnehmer:innen der Übung über die entsprechenden technischen Voraussetzungen verfügen, was zu einer zusätzlichen Erschwernis – unabhängig von der eigentlichen Aufgabestellung – führen konnte.

Wie haben Sie sich in der Situation gefühlt?

Je nachdem, ob Ihnen die Aufgabe schwer- oder leichtgefallen ist, löst sie wahrscheinlich unterschiedliche Emotionen in Ihnen aus. Sie kann – so die Erfahrungen aus zahlreichen Durchgängen der letzten Jahre – von Freude bis über Aggression und Verweigerung reichen, wobei wiederum mit Auswirkungen auf das Arbeitsergebnis zu rechnen ist.

Unklar blieb bis zum Schluss, zu welchem Zweck und mit welchem Ziel die Durchführung der Aufgabe erfolgen sollte. Dies kann – auch bei Schüler:innen – zu Verwirrung, Orientierungslosigkeit, Unmut, Ängsten oder aber auch zu einer Verweigerung führen.

Wo hätten Sie sich im Diagnostikprozess Aufklärung gewünscht?

Eine derart durchgeführte Diagnostik kann aus unterschiedlichen Gründen und durch zahlreiche Barrieren sehr herausfordernd wirken. Diagnostische Zugänge und Prozesse könnten „Erleichterungen“ finden durch

  • einen offenen und transparenten Dialog,
  • Absprachen und klare Ziel- und Aufgabenformulierung,
  • Vermeidung einer rein technischen Umsetzung zugunsten einer in Beziehung eingehenden Diagnostik,
  • Verwendung von Kommunikationsmitteln etc.

Diagnostik im inklusiven Kontext: Wofür steht diese Übung? – Anbindung an den wissenschaftlichen Diskurs

Insgesamt hat in der Schulpädagogik eine deutliche Orientierung auf die Zuwendung zu jeder(m) einzelnen Schüler:in stattgefunden. Lehrkräfte erkennen vermehrt an, dass Prozesse der Individualisierung für die Schaffung differenzierter und angemessener Lerngelegenheiten für die Bereitstellung eines förderlichen Unterrichtsklimas notwendig sind. Gleichzeitig konstatieren sie, dass sie mit den unterschiedlichen Voraussetzungen und Herausforderungen, die Schüler:innen mit sich bringen, oft nicht umgehen können. Sie machen in Befragungen deutlich, dass es ihnen an professionellem Diagnose-, Erklärungs- und Handlungswissen, Methoden und „Werkzeugen“ mangele, wenn es darum geht, verschiedene Ausgangslagen zu bestimmen und diese fortlaufend in Einklang mit Individualisierungs- und Differenzierungsstrategien zu bringen (vgl. Barth und Gloystein 2019, S. 95). Des Weiteren ergeben Befragungen von Lehrkräften eine „Gemengelage von unterschiedlichen Auffassungen darüber, was Diagnostik ist, darf und soll“ (Jansen und Meyer 2016, S. 280).

Mit dem Blick auf das inklusive Schulsystem und seinen Veränderungsanspruch hat sich diese Unsicherheit noch verstärkt und beschäftigt sowohl Studierende aller Lehrämter als auch Lehrende und Forscher:innen. Der Ruf nach diagnostisch kompetent ausgebildeten Lehrkräften gipfelt aktuell in einer Fragestellung, welche die Diagnosekompetenz von Lehrkräften berührt und der Ziel-, Inhalts- und Umsetzungsfrage einer an Inklusion orientierten Diagnostik nachgeht (vgl. Barth und Gloystein 2019, S. 95).

Diagnostische Kompetenz beschreibt nach Brühwiler (2014, S. 76) „die Fähigkeit, die Schülerinnen und Schüler bezogen auf ihre Lernvoraussetzungen und ihre Lernergebnisse genau einschätzen zu können“. Für die Forschergruppe um Beck et al. (2018) und Brühwiler (2014) gehören Sachkompetenz, didaktische Kompetenz, diagnostische Kompetenz und Klassenführungskompetenz, zu den für erfolgreiches Unterrichten bedeutsamen Fähigkeiten. Erst das situations- und kontextsensitive Zusammenspiel dieser vier Kompetenzen, verstanden als adaptive Lehrkompetenz, ermöglicht die „Anpassungsleistung an variable Bedingungen“ (Brühwiler 2014, S. 76) und unterstützt damit die Fähigkeit der Lehrkräfte Unterricht an die Bedürfnisse von Schüler:innen anzupassen (ebd., S. 60).

Diagnostische Kompetenz wird nach Brühwiler (ebd., S. 82) als umfassendes Konzept verstanden und bezieht sich im engeren Sinne auf die Urteilsgenauigkeit und diagnostische Expertise (methodisches, prozedurales und konzeptionelles Wissen) von Lehrkräften. Sie gibt Auskunft über den aktuellen Lernstand von Schüler:innen – wobei Lernziele als Bewertungsmaßstab gelten – und über die Qualität des Lernprozesses insgesamt (Beck 2008, S. 30). Mit dem Ziel, Schüler:innen das Verstehen des Unterrichtsgegenstandes zu ermöglichen, stellen Lehrkräfte sich damit der Aufgabe, kognitive Voraussetzungen von Schüler:innen zu erkennen, um Aufgabenanforderungen genau beurteilen können (Brühwiler 2014, S. 82) (vgl. Barth und Gloystein 2018, S. 112).

Unter dem Vorzeichen von Inklusion steht der renommierte Ansatz hinsichtlich einer Neubewertung und Anpassung jedoch auf dem Prüfstand – insbesondere, was die diagnostische Kompetenz anbelangt (vgl. Barth und Gloystein 2018, 2019). „Das inzwischen verankerte Recht auf Inklusion und Partizipation rückt Diagnostik als elementares (Unterrichts-)Prinzip in ein neues Licht und verlangt einen grundlegend anderen Umgang mit Verschiedenartigkeit und Vielfalt“ (Gloystein und Moser 2019, S. 65).

Für eine erste Annäherung an die Aufgaben, auf die angehende Lehrkräfte innerhalb ihrer Ausbildung vorbereitet werden und die sie später in der Gestaltung inklusiver Bildung an Schulen erfüllen sollen, konnten im Rahmen des FDQI-HU-Projektes mehrere Kernpunkte herausgearbeitet werden - die an dieser Stelle jedoch nur verkürzt dargestellt werden können (vgl. Gloystein und Frohn 2020, S. 65f.) und sich unter Beachtung der durchgeführten Übung auf folgenden Aspekt konzentriert:

Die Veränderungen grundsätzlicher Leitlinien in der Pädagogik haben auch einen Paradigmenwechsel in der Diagnostik bewirkt, der einer intensiven Reflexion darüber bedarf, worin das alte Paradigma bestand, was die neue Sichtweise verkörpert und welche Haltungen und Einstellungen, Fragestellungen, Ziele sowie Methoden sich daraus für die Diagnostik ergeben.

Eine Professionalisierung muss daher zwangsläufig an den Haltungen und Rollenbildern der angehenden Lehrkräfte ansetzen. Reflexive Zugänge finden sich "im Hinterfragen der Ergebnisorientierung, bei vorgefertigten Kriterien und Fragenkatalogen, im Erkennen von Hierarchiestrukturen und Abhängigkeiten als auch in der kritischen Betrachtung des Gesamtgeschehens“ (Römer 2017, S. 229).

Zusammenfassend geht es auch in dieser Selbsterfahrungsübung darum, die eigenen Vorstellungen und Haltungen – als wichtige Variable hinsichtlich der Umsetzung inklusiven Unterrichts – sowohl theoretisch als auch praktisch zu reflektieren. Erst im Transfer der Erkenntnisse kann der Raum für Leitgedanken einer Diagnostik, die den ethischen Grundlagen inklusiven Lehrens und Lernens entspricht, entstehen.

Literaturverzeichnis

Barth, U. & Gloystein, D. (2018). Adaptiv kompetent - Potentiale gemeinsamer Lehre. In A. Langner (Hrsg.), Inklusion im Dialog. Fachdidaktik - Erziehungswissenschaft - Sonderpädagogik (Perspektiven sonderpädagogischer Forschung, S. 249–255). Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt.

Barth, U. & Gloystein, D. (2019). Adaptive Lehrkompetenzen im Spannungsfeld inklusiver Schule. Schwerpunkt Diagnostische Kompetenzen: Erfahrungen, Vorschläge, Visionen. In M. Esefeld, K. Müller, P. Hackstein, E. von Stechow & B. Klocke (Hrsg.), Inklusion im Spannungsfeld von Normalität und Diversität. Band II: Lehren und Lernen (S. 95–102). Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

Beck, E., Baer, M., Guldimann, T., Bischoff, S., Brühwiler, C., Müller, P. et al. (Hrsg.). (2008). Adaptive Lehrkompetenz. Analyse und Struktur, Veränderbarkeit und Wirkung handlungssteuernden Lehrerwissens (Pädagogische Psychologie und Entwicklungspsychologie, Bd. 63). Münster: Waxmann.

Brühwiler, C. (2014). Adaptive Lehrkompetenz und schulisches Lernen. Effekte handlungssteuernder Kognitionen von Lehrpersonen auf Unterrichtsprozesse und Lernergebnisse der Schülerinnen und Schüler. Münster: Waxmann.

Gloystein, D. (2020). Der Baustein Heterogenitätssensibilität: inklusionspädagogische Grundlegung für adaptive Lehrkompetenz. In E. Brodesser, J. Frohn, N. Welskop, A.-C. Liebsch, V. Moser & D. Pech (Hrsg.), Inklusionsorientierte Lehr-Lern-Bausteine für die Hochschullehre. Ein Konzept zur Professionalisierung zukünftiger Lehrkräfte (Interdisziplinäre Beiträge zur Inklusionsforschung, S. 62–75). Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

Gloystein, D. & Barth, U. (2020). Diversitätskategorien denken – Ein neues Grundprinzip in der Diagnostik. In T. Dietze, D. Gloystein, V. Moser, A. Piezunka, L. Röbenack, L. Schäfer et al. (Hrsg.), Inklusion - Partizipation - Menschenrechte. Transformation in die Teilhabegesellschaft? (S. 112–120). Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

Gloystein, D. & Frohn, J. (2020). Der Baustein adaptive diagnostische Kompetenz: ein Selbstversuch und inklusionssensible pädagogische Diagnostik als Impuls für Perspektivwechsel und professionelle Reflexion. In E. Brodesser, J. Frohn, N. Welskop, A.-C. Liebsch, V. Moser & D. Pech (Hrsg.), Inklusionsorientierte Lehr-Lern-Bausteine für die Hochschullehre. Ein Konzept zur Professionalisierung zukünftiger Lehrkräfte (Interdisziplinäre Beiträge zur Inklusionsforschung, S. 62–75). Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

Gloystein, D. & Moser, V. (2019). Ausgangslage. In J. Frohn, E. Brodesser, V. Moser & D. Pech (Hrsg.), Inklusives Lehren und Lernen. Allgemein- und fachdidaktische Grundlagen (S. 65–67). Bad Heilbrunn: Klinkhardt Julius.

Jansen, M. & Meyer, M. A. (2016). Wie qualifiziert man Lehrer/innen im Bereich Diagnostik für den Umgang mit Vielfalt? In B. Amrhein (Hrsg.), Diagnostik im Kontext inklusiver Bildung. Theorien, Ambivalenzen, Akteure, Konzepte (S. 279–298). Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

Römer, S. (2017). Verstehen und Vermitteln einer heilpädagogischen Diagnostik - eine hochschuldidaktische Herausforderung. In S. Römer (Hrsg.), Diagnostik als Beziehungsgestaltung. Beziehungen eingehen, reflektieren und gestalten - Diagnostik in Dialog und Kooperation (S. 223–242). Berlin: Frank & Timme.