1. Adaptive Klassenführung

Website: OpenMoodle der Universität Bielefeld
Kurs: Adaptive Lehrkompetenz für inklusiven Unterricht
Buch: 1. Adaptive Klassenführung
Gedruckt von: Gast
Datum: Donnerstag, 21. November 2024, 12:54

Beschreibung

Hier erfahren Sie etwas über adaptive Klassenführungskompetenz.

Klassenführung im Regelunterricht

"Das Konstrukt der Klassenführung bzw. des Classroom-Managements wird seit mehr als fünfzig Jahren in erziehungs- und bildungswissenschaftlichen Arbeiten thematisiert. Während ursprünglich ein auf Reaktion ausgerichtetes Begriffsverständnis den – zunächst behavioristisch geprägten – Diskurs kennzeichnete, gewann der präventive Umgang mit potenziellen Störungen in den 1970er Jahren durch die Arbeiten des Psychologen Jacob S. Kounin (1976) zunehmend an Relevanz (zusammenfassend siehe Liebsch & Patzer 2020). Um entsprechende proaktive Strategien zu systematisieren, definierte Kounin fünf Merkmale effektiver Klassenführung:

 

Merkmal

Erläuterung

1.

Disziplin

  • Bei Störungen in klarer und fairer Weise reagieren

2.

Allgegenwärtigkeit und Überlappung

  • Den Blick für die Klasse behalten und dies den Schüler:innen auch vermitteln
  • „Augen auch im Hinterkopf haben“: sich um mehrere Bereiche gleichzeitig kümmern können

3.

Schwung und Reibungslosigkeit

  • Den Unterricht ohne Unterbrechung steuern
  • Thematische Sprünge und Ablenkungen vermeiden

4.

Gruppenfokus

  • Alle Schüler:innen in der Klasse gleichzeitig mobilisieren
  • Alle Klassenmitglieder erhalten Aufmerksamkeit

5.

Abwechslung und intellektuelle Herausforderung

  • Lernaktivitäten anregend gestalten, um Überdruss zu vermeiden
  • Bedeutsamkeit von Inhalten vermitteln
  • Kognitive Herausforderungen wählen

Diese Merkmale wurden – mit Rückgriff auf Marzano et al. (2005) – zusammenfassend von Kunter und Trautwein (2013, S. 82) u.a. um die Prinzipien „Etablieren von Regeln und Routinen“, „eine konstruktive Schüler-Lehrerbeziehung“ und „die eigene Geisteshaltung“ ergänzt und zeugen – z.B. mit Blick auf die Fokussierung der inklusionspädagogisch relevanten pädagogischen Beziehungen, die etwa durch einen wertschätzenden, zugewandten Umgang miteinander gekennzeichnet sind – von einer zunehmenden Schüler:innenorientierung. Gleichwohl werden diese Dimensionen gelungener Klassenführung auch im Hinblick auf das ihnen inhärente Machtgefälle hinterfragt: „Obwohl [nämlich] der Ansatz auf Störungsreduzierung durch Antizipation und nicht auf Disziplinierung ausgerichtet ist, zeugen diese Verhaltensdimensionen doch von einer Sicht auf Unterricht, die stark auf die Lehrperson ausgerichtet ist und ihr die alleinige Verantwortung für Lehr-Lern-Prozesse überträgt (vgl. Ophardt & Thiel, 2008, S. 268)“ (Liebsch & Patzer 2020, S. 90).

Ausgehend von dieser Beobachtung sowie der Bezeichnung von Klassenführung als einem „mehrdimensionalen Geflecht“ (Haag & Brosig 2012, 171 f.) werden im Folgenden anhand von gegenwärtig formulierten Anforderungen an einen inklusiven, schüler:innenzentrierten Unterricht die traditionellen Merkmalsbereiche adaptiver Klassenführungskompetenz um mögliche Spannungsverhältnisse im inklusiven Unterricht erweitert." (Frohn et al., i.E.)

Klassen-"Führung" – Spannungsfelder im Umgang mit heterogenen Schulklassen

„In Auseinandersetzung mit einer an Inklusion orientierten, adaptiven Klassenführung, in der – unter Berücksichtigung der oben genannten Merkmalsbereiche – individuelles didaktisches Handeln auf spezielle Situationen und Adressat:innen abgestimmt wird, „wird deutlich, dass Klassenführungskompetenz eng mit der didaktischen Kompetenz […] verknüpft ist (vgl. Brühwiler, 2014, S. 86)“ (Liebsch & Patzer 2020, S. 91, Herv. i. O.; siehe Baustein zur „adaptiven didaktischen Kompetenz“ in diesem Heft). Orientiert an den Prozessmerkmalen des Didaktischen Modells inklusiven Lehrens und Lernens (DiMiLL, ebd.) erfolgt demnach eine inklusionsorientierte Klassenführung auch durch die Umsetzung der unterrichtlichen Prozessmerkmale der Partizipation, Kommunikation, Kooperation und Reflexion. Jedoch erfolgt die Berücksichtigung dieser Prozessmerkmale zwangsläufig im Rahmen unterrichtlicher Spannungsfelder, die eine situationsspezifische, reflexive Handhabung seitens der Lehrkraft erfordern, was eine weitere Facette der adaptiven Klassenführungskompetenz ausmacht.“ (Frohn et al., i.E.)

Spannungsfeld 1: Lehrkräftezentrierung vs. Schüler:innenpartizipation

"Wird – wie im Projekt FDQI-HU – Partizipation u.a. als „gestaltende Teilhabe aller Lernenden in Schule und Unterricht ohne Ausschluss“ (Simon & Pech 2019, S. 40) definiert, muss die Nutzung des Begriffs Klassenführung hinterfragt werden: Während nämlich eine Führung eine klare Hierarchie und damit die Kommunikationsrichtung von der Lehrkraft zu den Schüler:innen vorgibt (vgl. auch Autonomieantinomie nach Helsper 2021, S. 172), impliziert z.B. die gemeinsame Gestaltung von Unterricht eine „Beteiligung aller an Entscheidungen – auch in Bezug auf die Inhalte und die Anlage von Unterricht“ (ebd., S. 41), was eine deutliche Diskrepanz zwischen der im Begriff angelegten Lehrkräftezentrierung und einer breiten Schüler:innenpartizipation eröffnet. Zur begrifflichen Weiterentwicklung bezeichnen z.B. Fischer und Kolleg:innen (2014) die ursprünglich von Helmke und Weinert (1997) so benannte „Klassenführungskompetenz“ als „Kommunikative Kompetenz“: „Neben dem Wissen über Klassenführung sind in inklusiven Settings v.a. Kenntnisse über Beratung, Coaching, Mentoring sowie über Teamarbeit wesentlich“ (Fischer et al. 2014, S. 18), was eine deutliche Öffnung bis hin zur Ablehnung des Führungs-Begriffs impliziert.

Im Rahmen dieses Spannungsfeldes ist auch die Balancierung zwischen unterrichtlicher Offenheit und lernförderlicher Struktur für individuelles Lernen relevant, wie Textor, Kullmann und Lütje-Klose (2014) anhand einer Interviewstudie herausarbeiten: „Aus der Perspektive der Lehrkräfte ist Individualisierung mit einem speziellen Balanceakt verbunden: Der Balance zwischen Flexibilität und Verlässlichkeit, Offenheit und Struktur“ (ebd., S. 80). Dafür sei Brüning (2015, S. 12) zufolge insbesondere „ein hohes Maß an Klassenführungskompetenz notwendig […]. Denn differenzierender oder gar individualisierender Unterricht lässt sich nur dann realisieren, wenn innerhalb der Klassen der Lernprozess weitgehend störungsfrei erfolgen kann.“ Demnach ist in inklusiven Settings dem Spannungsverhältnis zwischen Lehrkräftezentrierung (s.o.) bzw. Dominanz der Lehrkraft (Kunter & Trautwein 2013, S. 83) und Schüler:innenpartizipation produktiv zu begegnen, sodass einerseits eine lernförderliche Strukturierung, andererseits eine Flexibilisierung des Unterrichts möglich ist. Umgesetzt werden kann dies etwa, indem kommunikative, kooperative Arbeitsformen im Rahmen klarer Abläufe und Erwartungen geschaffen werden." (Frohn et al., i.E.)

Spannungsfeld 2: inklusionspädagogische Normen vs. tradierte unterrichtliche Praktiken

"Gleichwohl schaffen diese offenen und kooperativen Arbeitsformen ein weiteres Spannungsverhältnis, das die Balance zwischen moralischen Normen einerseits und den Normen tradierter sozialer Praxen andererseits erfordert. Erst jüngst zeigten z.B. Bender und Rennebach (2021) durch objektiv-hermeneutische Fallrekonstruktionen zu Teilhabeordnungen inklusiven Unterrichts, dass „die Differenz zwischen inklusionspädagogischen Normen und unterrichtspädagogischen Praktiken nicht aufgelöst werden [kann]. Das daraus entstehende Strukturproblem unterrichtlicher Inklusion wird an immer kleinere Interaktionseinheiten delegiert“ (ebd., S. 231). So komme es im inklusiven Unterricht einerseits zu einer Übertragung dieser unauflösbaren Spannung an die Schüler*innen, sodass etwa ihnen selbst „die Verantwortung für das Misslingen ihres Lernprozesses“ (ebd., S. 239) sowie die Schuld für das „Scheitern der Teilhabe“ (ebd., S. 240) zugewiesen wird. Andererseits könne die – inklusionspädagogisch fundierte – Idee kooperativen bzw. ko-konstruktiven Arbeitens in Verbindung mit einem allzu offenen Lehr-Lern-Arrangement eine „geschmeidige peer-kulturelle Interaktion“ (ebd., S. 245) eher verhindern als fördern, da die Normen der sozialen Praxis[1] auch in der Übertragung der Verantwortung aus dem Klassenverband in die Kleingruppe fort- und den moralischen Normen der Inklusion entgegenstehen." (Frohn und Mayer, i.E.)



[1] Mögliche Normen des Sozialen können dabei „historisch institutionalisierte und kulturell verankerte Praxen und den diesbezüglichen Prozess der sozialen Positionierungen“ (Bender & Rennebach 2021, S. 236) meinen, also im unterrichtlichen Fall die Fortschreibung traditioneller sozialer Unterrichtsformen, die auch exkludierende Merkmale tragen.

Adaptive Klassenführung für den inklusionsorientierten Unterricht

"Eine adaptive Klassenführung sollte auch darauf ausgerichtet sein, das benannte Strukturproblem (detailliert siehe Bender & Dietrich 2019) zu reflektieren, um einem Scheitern der inklusionsorientierten Didaktik an ihren eigenen pädagogischen Normen bzw. deren Widerspruch zu sozialen Praxen entgegenzuarbeiten. In diesem Sinne erscheint durchaus eine Klassenführung vonnöten, die die Strukturprobleme inklusiven Unterrichts nicht an kleinere Organisationseinheiten – namentlich an die Schüler:innen – delegiert, sondern vielmehr lerngruppenspezifisch erörtert, wie Formen der Vergemeinschaftung (inhaltlich wie sozial) zu schaffen sind, die einen gemeinsamen und individuellen Kompetenzzuwachs unterstützen und sozialnormativen Exklusionsdynamiken vorbeugen.

Zusammenfassend beinhaltet das mehrdimensionale Geflecht (s.o.) der adaptiven Klassenführungskompetenz für den inklusionsorientierten Unterricht die folgenden (dunkelgrau gekennzeichneten) Merkmalsbereiche in den (hellgrau gekennzeichneten) Spannungsfeldern:

In der Grafik sind die Spannungsfelder inklusionsorientierter Klassenführung dargestellt. Im Außenkreis stehen „Lehrkräftezentrierung vs. Schüler*innenpartizipation“ und „inklusionspädagogische Normen vs. tradierte unterrichtliche Praktiken“. Im Innenkreis stehen „Disziplin“, „Allgegenwärtigkeit und Überlappung“, „Schwung und Reibungslosigkeit“, „Gruppenfokus“ und „Abwechslung und intellektuelle Herausforderung“.

Für den Umgang mit heterogenen Lerngruppen gilt es demnach, die bekannten Merkmalsbereiche der Klassenführung unter den widersprüchlichen Anforderungen der jeweiligen Spannungsfelder auszubalancieren, sodass z.B. „Regeln und Routinen“ zwar von der Lehrkraft im Unterricht (mit) umgesetzt, jedoch – im Sinne einer starken Schüler:innenpartizipation – gemeinsam in der Klasse erarbeitet und angewandt werden. Zudem sind „Regeln und Routinen“ in diesem Begriffsverständnis nicht nur auf eine größtmögliche Störungsfreiheit, sondern eben auch auf die umfassende Teilhabe der Lernenden auszurichten. Diese Definition der adaptiven Klassenführungskompetenz soll der Baustein zunächst durch den asynchronen Teil theoretisch anbahnen, um die einzelnen Merkmalsbereiche sowie die entsprechenden Spannungsfelder dann im synchronen Teil konkret auf mögliche Situationen im Fachunterricht zu beziehen." (Frohn und Mayer, i.E.)

Literaturverzeichnis

Als Vorlage für dieses Moodle-Buch dient der Text "Der Baustein Adaptive Klassenführungskompetenz. Eine digitale Lehr-Lern-Einheit zur Lehrkräfteprofessionalisierung für inklusive Settings" (erscheint voraussichtlich 2023 in DiMaWe) von Julia Frohn, Stephen Mayer und Ann-Catherine Liebsch.

Bender, S. & Dietrich, F. (2019). Unterricht und inklusiver Anspruch. Empirische und theoretische Erkundungen zu einer strukturtheoretischen Perspektivierung. Pädagogische Korrespondenz 60, S. 28–50.

Bender, S. & Rennebach, N. (2021). Teilhabeordnungen inklusiven Unterrichts: Zwischen moralischen Normen und den Normen sozialer Praxen. Zeitschrift für Pädagogik 67 (2), S. 231–250.

Brüning, L. (2015). Klassenführung als Basis guten Unterrichts – Durch die Unterrichtsgestaltung möglichen Störungen vorbeugen. Pädagogik.Leben (2), S. 12–15.

Fischer, C., Kopmann, H., Rott, D., Veber, M. & Zeinz, H. (2014). Adaptive Lehrkompetenz und pädagogische Haltung. Jahrbuch für allgemeine Didaktik 4, S. 16–34.

Haag, L. & Brosig, K. M. (2012). Klassenführung – Worauf kommt es an? SchulVerwaltung 35 (6), S. 169–172.

Helmke, A. & Weinert, F. E. (1997). Unterrichtsqualität und Leistungsentwicklung. Ergebnisse aus dem Scholastik-Projekt. In A. Helmke & F. E. Weinert (Hrsg.), Entwicklung im Grundschulalter (S. 241–252). Weinheim: Beltz.

Helsper, W. (2021). Professionalität und Professionalisierung pädagogischen Handelns. Eine Einführung (UTB Pädagogik, Bd. 5460). Opladen: Verlag Barbara Budrich.

Kounin, J. S. (1976). Techniken der Klassenführung: Hans Huber.

Kunter, M. & Trautwein, U. (2013). Psychologie des Unterrichts. Paderborn: Ferdinand Schöningh.

Liebsch, A.-C. & Patzer, Y. (2020). Der Baustein Adaptive Klassenführungskompetenz: effektive Klassenführung als Basis für den inklusiven Unterricht. In E. Brodesser, J. Frohn, N. Welskop, A.-C. Liebsch, V. Moser & D. Pech (Hrsg.), Inklusionsorientierte Lehr-Lern-Bausteine für die Hochschullehre. Ein Konzept zur Professionalisierung zukünftiger Lehrkräfte (Interdisziplinäre Beiträge zur Inklusionsforschung, S. 88–98).

Marzano, R. J., Gaddy, B., Foseid, M. & Marzano, J. (2005). A handbook for classroom management that works: Paerson Merrill.

Moser Opitz, E. (2014). Inklusive Didaktik im Spannungsfeld von gemeinsamem Lernen und effektiver Förderung. Jahrbuch für allgemeine Didaktik 4, S. 52–68.

Riegert, J. & Musenberg, O. (Hrsg.). (2016). Didaktik und Differenz. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

Simon, T. & Pech, D. (2019). Partizipation. In J. Frohn, E. Brodesser, V. Moser & D. Pech (Hrsg.), Inklusives Lehren und Lernen. Allgemein- und fachdidaktische Grundlagen (S. 40–42). Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

Textor, A., Kullmann, H. & Lütje-Klose, B. (2014). Eine Inklusion unterstützende Didaktik. Jahrbuch für allgemeine Didaktik 4, S. 69–91.