• Die Cover der vier Bände von Uwe Johnsons "Jahrestage" Uwe Johnsons Roman „Jahrestage. Aus dem Leben der Gesine Cresspahl“ erschien in vier Teilen zwischen 1970 und 1983. Der Roman ist ist ein überragendes Geschichts-, Erinnerungs- und Erzählkunstwerk. Er ist ein exemplarischer Text für die Bedeutung und die Möglichkeiten Historischen Erzählens im 20. Jahrhundert; ja noch mehr – wie sich in den aktuellen Debatten um die politischen und kulturellen Verpflichtungen aus der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts und um die weltpolitische Situation der Gegenwart und die historischen Bedingtheiten ihrer drängendsten Fragen zeigt – auch für das 21. Jahrhundert. Es ist ein Text zur Literatur der Gegenwart, so wie Uwe Johnson auch die unmittelbare Gegenwart seiner Zeit aufgreift: Die globale Konfrontation des Kalten Krieges, die Rassenunruhen in den Vereinigten Staaten, die Revolte von 1968 und die Proteste gegen den Vietnamkrieg. Diese Gegenwart wird immer wieder mit verschiedenen Vergangenheit(en) zusammengebracht, wie bereits die ersten Seiten des Romans verdeutlichen. Dieser Erzählansatz bedeutet auch, dass Johnson seinen Erzähler wie auch die Figuren in den Sprachgebrauch seiner erzählten Zeit eintaucht. Im Roman verwenden die Figuren deshalb Formulierungen, die wir heute als rassistisch bezeichnen. So wird beispielsweise unmarkiert und unkommentiert das N-Wort genutzt.

    Der Roman wirft zentrale Fragen auf: Was ist (unsere) ‚kleine‘ und ‚große‘ Geschichte? Wie prägt die ‚große‘ Geschichte die Welt des einzelnen Menschen? Wie können wir diese Geschichten erzählen und durch Weitererzählen an die Gegenwart vermitteln? Uwe Johnsons „Jahrestage“ entwerfen in einem komplexen Arrangement erzählend und erzählerisch Antworten darauf, doch nicht als fertige Lösungen, sondern als eine fragende Haltung in einem letztlich offen bleibenden Erzählvorgang.

    Dieser ist auf verschiedenen Zeitebenen angesiedelt und vollzieht sich in wechselnden Konstellationen. Auf zeitlicher Ebene ist es die Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert – die nationalsozialistische Diktatur, die unmittelbare Nachkriegszeit von West- und Ostdeutschland und der frühen Bundesrepublik bis zum Jahr 1968. Mit der Niederschlagung des Prager Frühlings durch Truppen der Warschauer Pakt-Staaten endet der Roman.

    Auf struktureller Ebene wird sowohl in als auch zwischen verschiedenen Generationen erzählt. Der ‚Erzähler‘ des Romans ist der von Gesine Cresspahl beauftragte „Genosse Schriftsteller“, der zusammen mit Gesine für ihre Tochter Marie die Familiengeschichte in den geschichtlichen und politischen Zeitläuften erzählt und aufzeichnet, „für wenn ich [Gesine] tot bin“ (Eintrag vom 7. Oktober 1967).

    Erzählt wird in einem Prolog-artigen, die Erzählerstimme einführenden Eingangstext und 366 Tageseinträgen im Kalender der Jahre 1967 und 1968. Aus ihnen haben wir eine überschaubare Zahl ausgewählt, um in den Text hineinzufinden. So können Sie sich der Fülle des erzählten Materials nähern und - wie wir hoffen - angeregt werden, nach und nach den ganzen Roman zu lesen und sich so mit den Fragen nach den Bedingungen der Möglichkeit des Erzählens von Geschichte auseinanderzusetzen. 

    Lothar van Laak