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    • Cover des Romans "Morenga" von Uwe TimmUwe Timms zweiter Roman „Morenga“ gilt heute als einer der ersten literarischen Texte nach 1945, der die gewaltvolle Geschichte vom Völkermord an den Herero- und Nama-Völkern zum Gegenstand hat. Zwischen 1904 bis 1907 fielen in der deutschen Kolonie ‚Deutsch-Südwestafrika‘, dem heutigen Namibia, den deutschen Verbrechen mindestens 70.000 Menschen zum Opfer. Der Roman ist zudem einer der bedeutendsten literarischen Behandlungen des Themas (WZ, 28.03.23, S. 20). Als der Roman 1978 im linken Verlag AutorenEdition erschien, war dieser Erfolg kaum abzusehen. Wie Timm selbst berichtet, waren die Mitherausgeber im Autorenkollektiv skeptisch und warnten, niemand in Deutschland würde sich für diese Geschichte interessieren.

      Obwohl 1978 die Unabhängigkeit Namibias nach einem Urteil des Internationalen Gerichtshof in Den Haag von 1971, das die Verwaltung des Gebietes durch Südafrika für illegitim erklärte, zum Greifen nahe schien, erlangte Namibia erst 1990 die volle staatliche Souveränität. Aufgrund der kolonialen Vergangenheit bestanden seit der Unabhängigkeit enge entwicklungspolitische Kontakte zwischen der Bundesrepublik und Namibia. Der Bundeskanzler Helmut Kohl besuchte das Land 1995. 2004 entschuldigte sich auf einer Gedenkveranstaltung zur Niederschlagung des Hereroaufstandes mit der damaligen Entwicklungshilfeministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul  erstmals ein Regierungsmitglied für die deutschen Kolonialverbrechen. Gegen die Anerkennung als Völkermord aber verwahrte sich die Bundesregierung lange. Im Kern dieser Weigerung stand die Befürchtung mit der Anerkennung auch zu Reparationszahlungen verpflichtet zu werden, die Opferverbände und die namibische Regierung bis heute forden. Erst 2021 erkannte der Außenminister Heiko Maas offiziell die deutschen Verbrechen als Völkermord an. Die deutsche Regierung verpflichtete sich darauf hin etwas über eine Milliarde Euro in einen Entwicklungshilfefonds für Namibia einzuzahlen, ohne dies als Wiedergutmachungszahlung anzuerkennen, was bis heute von Namibischer Seite kritisiert wird. (vgl. Bpb 2024)

      In einer frühen Rezension des Romans warf Jürgen Busche in der Literaturbeilage der  „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ Timm vor, die Geschichte einseitig zu porträtieren. Zwar sei es ein Verdienst, diese noch oft unbekannte Geschichte zu erzählen, er unterschlage dabei aber, dass es unter den Kolonisten und Teilnehmern am Feldzug manche gegeben habe, die „meinten für den Sieg einer guten Sache, auch im Interesse der Einheimischen zu kämpfen“ (FAZ, 18.04.1978, S. L3). Timm habe in seinem Roman Deutsch-Südwestafrika zu einem deutschen Vietnam gemacht. Zwar sei seine Darstellung nicht orthodox marxistisch geraten, doch  moralisch (zu) eindeutig. Ähnlich argumentierte Joachim Stosch in der Besprechung der Fernsehfassung der Verfilmung des Romans aus dem Jahr 1985, für die Timm das Drehbuch schrieb. Autor wie Regisseur hätten „Ansichten der Gegenwart in die Vergangenheit projiziert“ (FAZ, 26.03.1985, S. 26). Der Schriftsteller Gerd Heidenreich vermeinte hingegen im Juni 2023, wieder in der FAZ, angesichts einer heute vermeintlich herrschenden ‚Cancel Culture‘, die eine „ethnisch begründete Zensur“ eingeführt habe, hätte Timms „Morenga“ heute keine Chance mehr auf eine Veröffentlichung (FAZ, 24.06.2023, Bilder und Zeiten, S. 1). 

      Dass der Roman Anlass zu unterschiedlichen Wertungen gibt, liegt nicht allein in seinem Gegenstand begründet, oder zu neuen Paradigmen, unter denen die (deutsche) Kolonialgeschichte betrachtet wird, sondern in seinen ästhetischen Strategien. Wenn auch angelegt als historischer Roman, so integriert Timm immer wieder historische Quellen und Dokumente in den Text. Über deren Bedeutung ist in der Forschung heftig diskutiert worden. Sehen einige Forscher:innen darin den Versuch historische Authentizität aufzubauen, so erkennen andere darin eine metafiktionale Erzählstrategie, in der das Nebeneinander von historischen Dokumenten, fiktionalen Erzählpassagen der Erzählgegenwart und mythisierenden Rückblicken auf den Beginn der Kolonisierung des südlichen Afrikas die Leser:innen zu einer Reflexion über die ideologischen Verschiebungen in der Historiographie des (deutschen) Kolonialismus anregt (vgl. Reynolds 2008). 

      Wie dem auch sei, feststeht, dass Timm sich mit seinem Erzählverfahren in die seit den 1960er Jahren in Westdeutschland sich etablierende Bewegung des „Dokumentarismus“ einreiht, an der Autoren wie Peter Weiss, Heinar Kipphardt, Rolf Hochhuth, Hans Magnus Enzensberger und Alexander Kluge beteiligt sind. Die bewusste Auswahl, Anordnung und Veränderung des dokumentarischen Materials soll in der dokumentarischen Literatur nicht nur historische Fakten verbürgen, sondern auf unterschiedliche Konstellationen, Alternativen von Historie verweisen und Manipulationen der Geschichtserzählung durch Machtinteressen offenlegen.

      Matthias Buschmeier 

       

      Literatur: 

      Busche, Jürgen: "Ein deutsches Vietnam in Südwest? "Morenga", Uwe Timms historischer Roman über den Kolonialkrieg in Afrika", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.04.1978, S. L3.

      Greuling, Matthias: „‘Wissenschaft‘ schafft Rassenhass. Regisseur Lars Kraume über sein Kolonial-Drama „Der vermessene Mensch“ und abwegige Rassentheorien“, in: Wiener Zeitung, 28.03.23, S. 20.

      Heidenreich, Gert: Fantasie kennt kein Gebot. Über die Kunstfreiheit und ihre Grenzen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.06.2023, Bilder und Zeiten, S.1. 

      Reynolds, Daniel P.: The Documentary Critique in Recent German Postcolonial Literature, in: German Studies Review, May, 2008, Vol. 31, No. 2 (May, 2008), S. 241-262. 

      Stosch, Joachim: Moralischer Blick zurück. „Morenga“ in der Fernsehfassung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.03.1985, S.26.