Kolonialismus, Krieg und Diktatur. Gewalterfahrungen in der deutschsprachigen Literatur nach 1945
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Kriegswende und Kriegsende
Unter der Herrschaft des diktatorisch regierenden „Staatsführers“ Ion Victor Antonescu (1882–1946) hatte Rumänien bis zum Sommer 1944 als Verbündeter Deutschlands am Krieg gegen die Sowjetunion teilgenommen, nach dem Zusammenbruch der deutsch-rumänischen Front an der Moldau aber die Fronten gewechselt und Deutschland am 25. August 1944 den Krieg erklärt. Antonescu war zwei Tage zuvor mit Unterstützung des Königs Michael I. gestürzt (23. August 1944) und an die Sowjetunion ausgeliefert worden. Etwa 300.000 Juden und Jüdinnen sowie ein Großteil der ca. 25.000 in Lager deportierten Angehörigen der Roma waren bis dahin Massakern und ethnischen Säuberungen zum Opfer gefallen. Die faschistische Vergangenheit Rumäniens wurde aus der politischen Erinnerung der 1947 ausgerufenen Rumänischen Volksrepublik (ab 1965 Sozialistische Republik Rumänien) ebenso weitgehend ausgeblendet wie die von der sowjetischen Führung Anfang 1945 verfügte Deportation aller arbeitsfähigen rumänischen Männer und Frauen deutscher Herkunft in sowjetische Arbeitslager. Etwa 70.000–80.000 Menschen wurden Opfer dieser Maßnahme zur Wiederaufbauhilfe und Wiedergutmachung für die erlittenen Kriegsschäden.
Als unerwünschte Erinnerung hat die Deportation der pauschal als ‚Hitleristen‘ geltenden Rumäniendeutschen im sozialistischen Rumänien keine standardisierte Ikonographie und auch keine stehenden Narrative hervorgebracht. Früh schon lassen sich gleichwohl die Spuren dieses tabuisierten Teils der rumänischen Geschichte (und später dann auch der zweiten Deportation von nicht allein Rumäniendeutschen in die Bărăgan-Steppe) in Herta Müllers Werken beobachten. Insbesondere die Deportationserfahrung ihrer Mutter Katharina bildet, beginnend mit dem Debütband „Niederungen“, eine Art erzählerisches Hinterland vieler von Herta Müllers Texten. Diese früheren Versuche sind gleichsam eine Art Vorlauf für den großangelegten Erinnerungstext „Atemschaukel“, den Herta Müller im Abstand von zwölf Jahren zu ihrem bis dahin letzten Roman „Heute wär ich mir lieber nicht begegnet“ 2009 veröffentlichte.Entstehungsgeschichte
Über die Entstehung des Romans, der in weiten Teilen auf den Erinnerungen des 2006 gestorbenen Dichterfreundes Oskar Pastior basiert, hat Herta Müller selbst verschiedentlich Auskunft gegeben, u. a. im Nachwort zum Roman. Hier heißt es: „2001 begann ich, Gespräche mit ehemals Deportierten aus meinem Dorf aufzuzeichnen. Ich wusste, dass auch Oskar Pastior deportiert war, und erzählte ihm, dass ich darüber schreiben möchte. Er wollte mir helfen mit seinen Erinnerungen. Wir trafen uns regelmäßig, er erzählte, und ich schrieb es auf. Doch bald ergab sich der Wunsch, das Buch gemeinsam zu schreiben. Als Oskar Pastior 2006 so plötzlich starb, hatte ich vier Hefte voller handschriftlicher Notizen, dazu Textentwürfe für einige Kapitel. Nach seinem Tod war ich wie erstarrt“ (Müller 2009, S. 299f).
Lange konnte Herta Müller sich nach Pastiors Tod zunächst nicht dazu durchringen, das Erinnerungsprojekt alleine fortzuführen. Im Zuge der nach einer längeren Unterbrechung letztlich dann doch wieder aufgenommenen Schreibarbeit erfolgte eine forcierte Literarisierung, mit der das ‚Zeitzeugenprojekt‘ in eine gleichsam zweite Ordnung überführt wurde. Erst jetzt entstand aus dem Memoir der Roman „Atemschaukel“ mit seinen Wort-Neuschöpfungen und aus dem Bereich der gegenständlichen Dingwelt zusammengesetzten Wortkomposita, mit dem Herta Müller erstmals den Erfahrungsraum ihrer eigenen Lebensgeschichte verlassen und einem Erzähler Wort und Stimme gegeben hat, der im Abstand von sechzig Jahren auf seine Lagerzeit zurückblickt.Rezeption: Kritik und Nobelpreis
Als Nach-Schrift einer weitergereichten Erinnerung hat „Atemschaukel“ bei seinem Erscheinen in Anlehnung an ‚alte‘, im Zusammenhang mit der Shoah-Literatur geführte Debatten geradezu reflexartig zunächst noch einmal die Frage nach der Legitimation eines nicht aus eigener Erfahrung geschöpften Erzählens ausgelöst. Gleich von zwei Seiten her hat Iris Radisch so in der „Zeit“ den Roman in Frage gestellt: zum einen als Erinnerung aus „zweiter Hand“, die eine aus Zeugenberichten und erfundenen (erdachten) Aussagen amalgamierte als wirklich erscheinende Welt konstruiert; zum anderen hinsichtlich seiner ästhetischen Formensprache. Mit „Atemschaukel“, so Radisch, lege Herta Müller „einen neuerlichen Nachkriegsroman vor, der gerade aufgrund jener poetischen Verfahren, für die Herta Müller stets so gerühmt wurde, kraftlos und schal, ja in manchen Passagen von peinigender Parfümiertheit“ (Radisch 2009, S. 43) sei. Die Verleihung des Nobelpreises hat das Werk, das in seiner Monumentalität wie ein Schlussstein in Müllers vielfach ausgezeichnetem Erzählwerk wirkt (und dem bislang auch kein weiterer Roman mehr gefolgt ist), dann sehr schnell aber weitgehend jeder Kritik entzogen. Der Roman gilt heute gerade auch im Hinblick auf die ästhetische Konstruktion und Formierung von Erinnerung als eines der herausragenden Beispiele fiktionaler Zeugenschaft, das mit tableauhaften Anordnung auf- und abblendender Bilder die Welt eines buchstäblich unlebbaren Lebens im Ausgeliefertsein an die Willkür, die Kälte und den Hunger begreifbar macht.
Norbert Otto Eke
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