Transformationen der dramatischen Form 1800-1900
Topic outline
- Überblick
- Evaluation
- Historische Kontextualisierung
- I. Friedrich Schillers „Maria Stuart“
- II. Johann Wolfgang Goethes „Faust I/II“
- III. Heinrich von Kleists „Die Hermannsschlacht“
- IV. Christian Dietrich Grabbes „Napoleon oder Die hundert Tage“
- V. Georg Büchners „Woyzeck“
- VI. Johann Nestroys „Freiheit in Krähwinkel“
- VII. Friedrich Hebbels „Maria Magdalena“
- VIII. Gerhart Hauptmanns „Der Biberpelz“
- IX. Arthur Schnitzlers „Reigen“
- Das Gesamtkunstwerk im 19. Jahrhundert
- Abschluss: Kursübergreifende große Schreibaufgaben
- Literaturverzeichnis
- Impressum
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Georg Büchners „Woyzeck“ markiert innerhalb der deutschsprachigen Dramengeschichte einen Neubeginn, und zwar in inhaltlicher, formaler und sprachlicher Hinsicht. Im Vergleich zu den bisher bearbeiteten Texten dieses Kurses sind neben klaren Unterschieden bezüglich des Figurenpersonals (etwa bezüglich Status und Sprechweise) auch Abweichungen die Dramenstruktur betreffend, auszumachen. Die literaturgeschichtliche Relevanz des „Woyzeck“ hat im Œuvre Büchners jedoch kein Alleinstellungsmerkmal: Als weitere einflussreiche Texte gelten etwa die sozialrevolutionäre Flugschrift „Der hessische Landbote“ (1834), das Geschichtsdrama „Dantons Tod“ (1835), das träumerisch-märchenhafte Lustspiel „Leonce und Lena“ (1836) oder die psychologisch-biografische Erzählung „Lenz“ (1839). Wenn Ihnen diese Texte (teilweise) bereits bekannt sind, wird Ihnen bei der Lektüre des „Woyzeck“ auffallen, dass Büchner in seinem letzten Drama auch auf seine früheren Werke rekurriert. Darüber hinaus hat er bei der Ausgestaltung des „Woyzeck“ auf verschiedene Zeitdokumente zu historischen Mordfällen zurückgegriffen, augenscheinlich lässt sich dabei eine zentrale Inspirationsquelle ausmachen: der Rechtsfall des Johann Christian Woyzeck, der 1821 seine Geliebte aus Eifersucht erstach und der dem Autor aus den Gutachten des Gerichtsmediziners Johann Christian August Clarus bekannt war (vgl. dazu etwa Schiemann 2017).
Das Stück zeigt den unaufhaltsamen, multifaktoriell bedingten Absturz eines Mannes, der seinen tragischen Tiefpunkt in einer schrecklichen Gewalttat findet. Fragen von Schuld- und Zurechnungsfähigkeit in physischen und psychischen Ausnahmesituationen – wie sie heute ganz selbstverständlich in Gerichtsverfahren Berücksichtigung finden –, werden hier, neben der Reflexion von Individual- und Kollektivschuld (und generell dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft), literarisch verhandelt. Büchner nimmt im „Woyzeck“ viele Elemente bereits vorweg, die literaturgeschichtlich eigentlich der gegen Ende des 19. Jahrhunderts einsetzenden Strömung des Naturalismus zuzurechnen wären. Das Drama Büchners veranschaulicht also gut den bloß heuristischen Behelfscharakter von Epochenbezeichnungen: In der Forschung wird der Autor häufig auch als prominenter Vertreter der Literatur des Vormärz genannt, wobei zeitpolitische Kontexte im „Woyzeck“ – im Gegensatz etwa zu „Dantons Tod“ – lediglich implizit verhandelt werden.
So literaturwissenschaftlich relevant der „Woyzeck“ in der Retrospektive auch sein mag, zeitgenössisch konnte davon noch keine Rede sein: Entstanden ab 1836, also kurz vor Büchners Tod 1837 (er wurde nur 23 Jahre alt), wurde „Woyzeck“ (in Auszügen) erst 1875 posthum in der Wiener „Neuen Freien Presse“ und dann vollständig von Karl Emil Franzos in der deutschen Wochenschrift „Mehr Licht!“ veröffentlicht. Bis zur Uraufführung musste dann wiederum etwas Zeit vergehen, erst 1913 feierte das Stück in München Premiere. Seinem heutigen Bekanntheitsgrad hat diese verzögerte Rezeption – vor allem dank der Wiederentdeckung durch Gerhart Hauptmann in naturalistischen Kreisen um die Jahrhundertwende – allerdings keinen Abbruch getan: „Woyzeck“ wurde vielfach übersetzt, medial bearbeitet und ist eines der meistgespielten Stücke der Weltliteratur: Die „Wunde Woyzeck“, die „als schlafloser Engel den Eingang zum Paradies [blockiert], in dem die Unschuld des Stückeschreibens zu Hause war“ – wie Heiner Müller es in seiner Büchner-Preis-Dankrede von 1985 beschrieben hat –, liegt immer noch offen.
Als Textgrundlage dieses Kurses dient die 2013 im Reclam-Verlag erschienene „Text und Kontext“-Ausgabe des „Woyzeck“.
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