Transformationen der dramatischen Form 1800-1900
Uvod
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Funktion der märchenhaften Erzählung
Welchen Stellenwert nimmt die Geschichte der Großmutter Ihrer Meinung nach im Drama ein? Beachten Sie, was ihr (zumindest in der vorliegenden Ausgabe) vorangeht und was darauf folgt. Steht sie isoliert zur Handlung oder könnte sie in Bezug dazu gesetzt werden? -
Forschungsmeinungen
Vergleichen und diskutieren Sie nun Ihre Aufzeichnungen mit den Ausführungen von Benno von Wiese und Ingrid Oesterle.Benno von Wiese: Das Anti-Märchen [...] Das tragische Lebensgefühl Büchners [...] hat an einer Stelle des „Woyzeck“ eine eigentümliche mythische Sinndeutung gefunden. Es geschieht in dem bitter-traurigen Märchen, das die Großmutter den Kindern erzählt, diesem Märchen der völligen Hoffnungslosigkeit, in die der Mensch hinausgestoßen ist. Ein armes Kind verliert Vater und Mutter. Es sucht sie Tag und Nacht auf der Erde, aber findet niemanden. Da auf der Erde sein Suchen vergeblich war, erhofft es Trost am Himmel, beim Mond, der es so freundlich anschaut. Aber als es näher kommt, war der Mond nur ein Stück faules Holz. Als es zur Sonne ging, um sich dort trösten zu lassen, war die Sonne nur eine verwelkte Sonnenblume, und als es zu den Sternen kam, waren die Sterne nur kleine goldne Mücken, die angesteckt waren, wie der Neuntöter sie auf die Schlehen steckt. Da will es schließlich auf die Erde zurück, aber die Erde war ein umgestürzter Hafen. „Und es war ganz allein, und da hat es sich hingesetzt und geweint, und da sitzt es noch und ist ganz allein.“
Es ist tragische Ironie, wenn Büchner die Form des Märchens, also der Illusion und des Zaubers wählt, um seine illusionslose und entzauberte Welt in ein mythisches Gleichnis zu fassen. Was sich hier ereignet, ist die Selbstaufhebung des Märchens. Das Märchen verkehrt sich tragisch in sein Gegenteil, das Anti-Märchen. Die Dinge bedeuten etwas anderes, als sie scheinen. Aber es ist umgekehrt wie im eigentlichen Märchen. Sie bedeuten nicht mehr, sondern weniger. Das Märchen hat nicht mehr [...] die Kraft, einer allzu gebrechlichen Welt die Gnade des erfüllten Traums zu schenken. Greift man hinter den Schein, so stößt man nicht auf das Wesen, sondern nur noch auf das Nichts.
(von Wiese 1990, S. 94)
Ingrid Oesterle: Das Märchen als „Integrationspunkt“ des Dramas Ein Märchen als „Integrationspunkt“ eines Dramas, in seine Peripetie1 episch eingelegt, „szenisch gestaltet“ durch die Erzählaufforderung eines Kindes, begleitet von dem vergeblichen Versuch zu singen, mit dem Thema: „Kein Ausweg, kein Licht am Ende, keine Erlösung, nur hoffnungslose Einsamkeit“, strukturell zweigeteilt in trostloses Alleinsein zunächst auf der Erde, dann in Bezug auf die Gestirne – die Beschreibung trifft auf Büchners Kontrafaktur2 eines Märchens im ‚Woyzeck‘ zu [...].
[...]
Das sogenannte ‚Antimärchen‘ ist doppelte Kontrafaktur: eine des Volksmärchens und – mit Hilfe dessen – auch eine Kontrafaktur des romantischen Kunstmärchens, dessen Literarität zurückgenommen wird. Es endet mit dem Kennwort des Genres: Schauder. Die Frage nach der Gefühls- und Mitleidsfähigkeit der Schöpfung schließt an. Büchner wird entschieden die negative Antwort in die Märchenerzählung einbeziehen.
Man hat das Märchen im „Woyzeck“ als Focus3 zentraler Wortmotive ausgemacht, die sich gewebeartig durch das ganze Stück spannen. Die ästhetische Organisationsinstanz, die diese Wortmotive über verschiedenste Szenen hinweg zusammenhält, ist der einsilbig, lakonisch gewordene literarische Schauer. Die Motivreihe Blut, rotes Meer gehört z.B. diesem ästhetischen Feld genauso an, wie die Feststellung „Still, Alles still, als wäre die Welt todt“ in der Angstatmosphäre der [...] Szene vor der Stadt, die Wiederholung „alles todt“ im Märchen ebenso wie die Äußerungen der verzweifelt zu beten suchenden Marie: „Schlägt sich auf die Brust. Alles todt!“
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1 Wendepunkt, Umschwung im Drama
2 von lt. contra-gegen und factura-Verfertigung: ursprüngl. geistl. Umdichtung eines weltl. Liedes, seltener umgekehrt; unter Beibehaltung der Melodie, aber Ersetzen der inhaltlich wichtigsten Wörter durch entsprechende andere erfolgende Umdichtung
3 Brennpunkt
(Oesterle 1990, S. 92f.)
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Dramenkonzeption
Vielleicht sind Ihnen bei der Lektüre des „Woyzeck“ einige inhaltliche Parallelen zum „Faust“ aufgefallen, etwa was Schauermotive, die Verführungshandlung oder Gewissensqualen der Frau angeht. Dennoch unterscheiden sich die beiden Dramen bereits in ihrer grundlegenden Konzeption. Überlegen Sie zunächst: Wie unterscheidet sich Woyzeck hinsichtlich Status, Sprache und Darstellungsweise vom Protagonisten Faust? Beziehen Sie in Ihre Überlegungen dann auch die Protagonist:innen der anderen von Ihnen bisher bearbeiteten Dramentexte mit ein. Welche gattungsspezifische Neuerung begründet Büchner mit seinem „Woyzeck“?Markieren Sie Ihren Aktivitätsabschluss, um Ihre Ergebnisse mit dem Lösungs- und Reflexionshinweis vergleichen zu können.