Transformationen der dramatischen Form 1800-1900
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Mit der Überlieferung von der historischen Varusschlacht 9 v. Chr. ist ein germanischer Gründungsmythos verbunden. Über 700 Orte wurden als Kampfplatz in Betracht gezogen, bis nun seit den 1990er Jahren feststeht, dass die Schlacht im Teutoburger Wald zwischen dem Wiehengebirge und dem norddeutschen Moor bei Kalkriese stattgefunden hat. Auf dieses gesicherte Wissen konnte sich Heinrich von Kleist bei seiner Bearbeitung des vom römischen Geschichtsschreiber Publius Cornelius Tacitus in seinen „Annales“ und anderen antiken Quellen überlieferten Stoffs noch nicht beziehen. Allerdings geht seinem Stück eine reiche künstlerische Stofftradition seit der Reformation voraus, in der die Geschichte um die Varusschlacht verschiedentliche Aktualisierungen erfahren hat: Allein im Jahrhundert vor der Entstehung von Kleists Stück haben sich zahlreiche namhafte Autoren – wie z.B. Johann E. Schlegel, Justus Möser oder Friedrich Gottlieb Klopstock – mit unterschiedlicher Treue zu den historischen Quellen des Themas bemächtigt. Kleists vielgestaltiges und inszenatorisch ohne umfassende Kürzungen kaum zu greifendes Drama wird von der Forschung als seine Wende zum politisch engagierten Autor gelesen (vgl. Grathoff 1999). Und in der Tat war das Stück 1808 für den aktuellen politischen Moment konzipiert. Kleist selbst schreibt, es sei „mehr, als irgend ein anderes, für den Augenblick berechnet“ (Brief an Heinrich Joseph von Collin vom 22. Februar 1809). Es ist in diesem Sinne bisweilen als Geschichtsdrama gelesen worden. Der Historiker Friedrich Christoph Dahlmann bemerkt so 1840 über Kleist in einem Brief an Georg Gottfried Gervinus, der zu diesem Zeitpunkt an seiner „Geschichte der deutschen Literatur“ arbeitete: „Einen glühenderen Freund des deutschen Vaterlandes hat es nie gegeben als ihn [...]. Für sein bestes Werk halt ich die am wenigsten besprochene Hermannsschlacht. Es hat zugleich historischen Werth; treffender kann der hündische Rheinbundsgeist, wie er damals herrschte [...], gar nicht geschildert werden.“ (Brief vom 16. Oktober 1840) Kleists Stück wäre folglich im Kontext der Befreiungsbewegung gegen die Napoleonische Besetzung Preußens zu betrachten. Und in der Tat versuchte Kleist immer wieder, meist erfolglos, engere Kontakte zu einem Kreis von hochrangigen Mitgliedern der preußischen Gesellschaft um den Freiherrn Heinrich Friedrich Karl vom und zum Stein zu knüpfen, die an Widerstandsplänen gegen Napoleon arbeiteten.
Einer solchen kontextgebundenen Lesart steht die Ansicht entgegen, Kleist habe mit der „Hermannsschlacht“ menschheitsgeschichtliche Probleme um Krieg, Allmachts- und Zerstörungsphantasien auf kritische Weise verarbeitet. An Kleists Drama stellen sich bis heute vor allem Fragen der Funktionalisierung von Geschichte im literarischen Werk (vgl. Hinck 1981) ebenso wie Fragen zur inszenatorischen Aktualisierbarkeit bzw. Aktualisierungsnotwendigkeit, wie sie exemplarisch in dem Streitgespräch zwischen dem Literaturwissenschaftler Hans Joachim Kreutzer und dem Theaterregisseur Claus Peymann zu dessen gestellt wurden (vgl. „Kleist-Jahrbuch“ von 1984).
Als Textgrundlage dient „Die Hermannsschlacht“ aus Heinrich von Kleists „Sämtliche Werke und Briefe“ herausgegeben von Helmut Sembdner im Deutschen Taschenbuchverlag. In der 2013 in dritter Auflage erschienenen zweibändigen Ausgabe in einem Band ist „Die Hermannsschlacht“ auf den Seiten 533-628 abgedruckt.