Der Kurs zu narrativen Großformen von 1100 bis 1600 lädt dazu ein, die uns vertrauten Themen von Liebe, Konflikt und Macht in doppelter Verfremdung neu zu entdecken: in der Fremdheit einer fernen Kultur und zugleich in der Verfremdung durch Literatur. Die drei Texte, Konrad Flecks „Flore und Blanscheflur“, Rudolf von Ems‘ „Willehalm von Orlens“ und Veit Warbecks „Magelone“, entfalten diese Themenkomplexe auf ganz unterschiedliche Weise.
‚Liebe‘, ‚Konfliktkultur‘ und ‚Macht‘ sowie ‚Herrschaft‘ sind keine Konzepte, die durch die Epochen und Kulturen hindurch gleich bleiben, vielmehr sind sie einem permanenten Wandel unterworfen und kulturell äußerst unterschiedlich ausgeprägt. Während wir heute z.B. ‚Liebe‘ als ein starkes Gefühl begreifen, das wir überwiegend einem ‚privaten‘ Bereich des Erlebens zuordnen, konnte ‚Liebe‘ im Mittelalter und in der beginnenden Frühen Neuzeit einerseits als spezifisch religiös begriffen werden (als ‚caritas‘); im Bereich weltlicher (höfischer) Kultur wurde Liebe dagegen als eine Kunst aufgefasst (lateinisch ‚ars‘), die Regeln folgt, beherrschbar ist und damit auch eine gesellschaftlich-kulturelle Norm darstellt. Zugleich konnte Liebe aber auch – jenseits von Wertungen – als Krankheit begriffen werden oder als eine Macht, die auf den Menschen von außen gewaltsam einwirkt und ihn ihrerseits beherrscht.
Auch die Bewährung im Konflikt kennt in der mittelalterlichen Literatur verschiedene Ausprägungen, was in den vielfältigen Konstruktionen des männlichen Protagonisten zum Ausdruck kommt: So gibt es z.B. den Heros als Ausnahmekämpfer, für den keine Regeln gelten, oder den Ritter, der versucht, Gott und der Welt zu gefallen (und – wie im Artusroman – die höfische Ordnung gegen außen verteidigt), oder auch den eher passiven Protagonisten, der im Erdulden von Gefahren und Widerständen seine ‚triuwe‘ (die Beständigkeit in der wechselseitigen Bindung) als höfische Qualität unter Beweis stellt.
Das Erzählen von Macht und Herrschaft schließlich umfasst unter anderem die Begründung und Struktur von Herrschaft, Aushandlungen von Macht, Formen sozial legitimierter adeliger Gewalt und Modellierungen von Geschlechterordnungen. So verstanden, sind Liebe, Konflikt und Macht zunächst einmal mentale Konzepte und Vorstellungen, die für eine Kultur und Gesellschaft grundlegend und prägend sind, sich aber keineswegs in der jeweiligen ‚Realität‘ wiederfinden müssen; d.h., sie sind in einem ‚gesellschaftlichen Imaginären‘ angesiedelt. Greifbar werden diese Konzepte und Vorstellungsbilder für uns als Literaturwissenschaftler:innen aber in der Literatur. In mittelalterlichen höfischen Texten sind Konzepte wie Liebe, Konflikt und Macht Aspekte des übergeordneten, umfassenden Konzepts der ‚höfischen Kultur‘. Gemeint ist damit ein in dieser Zeit neues und grundlegendes Kulturmodell, das aus dem französischen Sprachraum übernommen wird; unter ‚Kulturmodell‘ wird hier eine historisch spezifische Verbindung von Orientierungswissen, Interaktionsmustern und Ausdrucksweisen verstanden. In den Texten wird das Modell höfischer Kultur programmatisch entworfen und immer wieder neu verhandelt. Auch ‚höfische Kultur‘ meint also nicht primär eine in historischen Quellen greifbare kulturelle Praxis, sondern ist selbst im ‚gesellschaftlichen Imaginären‘ angesiedelt.