Kolonialismus, Krieg und Diktatur. Gewalterfahrungen in der deutschsprachigen Literatur nach 1945
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Fokalisierung
Bitte lesen Sie zunächst nur den ersten Absatz aus „Die Blechtrommel“ (S. 9f.). Mittels welcher Fokalisierung (intern, extern, Nullfokalisierung) nach dem Erzähltheoretiker Gérard Genette sowie den Wuppertaler Forschern Matías Martínez und Michael Scheffel wird erzählt?
Mit „Fokalisierung“ ist der Blickwinkel gemeint, aus dem die erzählte Welt und das Geschehen darin geschildert werden.
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Bitte lesen Sie den folgenden Abschnitt.
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Einordnung der Erzählinstanz
Es ist nun zu fragen, welche Konsequenzen dieser erste Absatz für unsere Lektüre hat. Welche Erwartungen schürt Günter Grass mittels seiner Erzählinstanz? Wie lässt sich die Erzählinstanz jetzt bereits im Kontext von historischem Erzählen einordnen? Bitte wählen Sie unter folgenden Aussagen die Ihrer Ansicht nach zutreffenden aus:
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Grundlegende weiterführende Informationen:
Grass konzipiert in „Die Blechtrommel“ einen unzuverlässigen Erzähler. Unzuverlässiges Erzählen bedeutet, dass wir als Leser nicht sicher sein können, ob das, was wir über die erzählte Welt erfahren, richtig ist. Die Unterscheidung zwischen zuverlässigem und unzuverlässigem Erzählen wurde 1961 von Wayne C. Booth in die Erzähltheorie eingeführt.
Unzuverlässiges Erzählen findet sich in Zusammenhang mit einem „intradiegetischen Erzähler“, das heißt mit einem Erzähler, der ein Bewohner der erzählten Welt ist. Ein solcher Erzähler ist „gegenüber den anderen Figuren […] nicht privilegiert“ (Martínez/Scheffel 2016, S. 107) er kann also nicht von einer übergeordneten Warte aus in alle Bereiche der erzählten Welt und in das Innenleben der Figuren darin hineinschauen, wie dies einem Erzähler möglich wäre, der mit einer Nullfokalisierung, das heißt mit einer Über- oder Allsicht, ausgestattet ist.
In „Die Blechtrommel“ haben wir es mit sog. theoretisch unzuverlässigem Erzählen zu tun: Die „Unzuverlässigkeit des Erzählers ist zumeist auf seine theoretischen Sätze begrenzt, während seine mimetischen Sätze vom Leser weiterhin für wahr gehalten werden“ (Martínez/Scheffel 2016, S. 107).
Was heißt das konkret? In „Die Blechtrommel“ wird neben der Zeit der erzählten, den Zeitraum von Oktober 1899 bis September 1952 umfassenden Geschichte auch diejenige Zeit datiert und wiederholt angesprochen, die Oskar benötigt, um seine Geschichte zwischen September 1952 und September 1954 in der Form von drei ‚Büchern‘ zu Papier zu bringen. Von diesen und vom Akt des Schreibens – mit einem „Füllfederhalter“ auf weißem, als „unschuldig“ bezeichnetem Papier, beginnend mit dem Leben der Großmutter des Erzählers mütterlicherseits – ist gleich im ersten Kapitel die Rede. Dessen Bemerkungen zu seiner Situation als Anstaltsinsasse, sein Hinweis gleich im zweiten Absatz, seine „Erzählungen“ seien erlogen, einzig sein „weißlackiertes metallenes Anstaltsbett“ sei „ein Maßstab“, lassen im Leser Skepsis aufkommen, ob das, was ihm erzählt wird, auch der Wahrheit bzw. historischen Wirklichkeit entspricht. Gleichwohl ist die Erzählung zuverlässig in dem, was die konkreten Tatsachen der dargestellten Geschichte betrifft. „Die Glaubwürdigkeit dieses [theoretisch unzuverlässigen] Erzählers ist eingeschränkt, insofern er als individuelle Figur hervortritt; sie bleibt aber uneingeschränkt in Bezug auf seine mimetische Erzählfunktion“ (Martínez/Scheffel 2016, S. 107).
Mit Matías Martínez und Michael Scheffel ist daher zu fragen:
„Wie […] ist die Erzählung in einem Roman wie etwa der Blechtrommel (1959) von Günter Grass zu werten, in dem eine offensichtlich erfundene Figur namens Oskar Matzerath die Geschichte ihres Lebens erzählt, die an historischen Orten, u.a. in Danzig, spielt und eng verflochten ist mit zahlreichen historischen Ereignissen wie z. B. der ‚Reichskristallnacht‘ oder der Belagerung und Eroberung der Danziger Polnischen Post im September 1939? […] Stellt der Lebensbericht, den Oskar der Trommler in einer Heil- und Pflegeanstalt […] niederschreibt, einen Fall von dichterischer oder nichtdichterischer Erzählung dar, und handelt etwa Oskars Geschichte vom Kampf und die Polnische Post, bei dem Oskars mutmaßlicher Erzeuger Jan Bronski getötet wird, von realen oder erfundenen Vorgängen?“ (Martínez/Scheffel 2016, S. 12f.)
Anne-Rose Meyer
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