Dramaturgie der Geschlechter. Heldinnen der Komödien und Trauerspiele 1600-1800
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- 1. Überblick
- 2. Theoretische Grundlagen
- 3. Daniel Caspar von Lohenstein: „Sophonisbe“
- 4. Andreas Gryphius: „Catharina von Georgien“
- 5. Dramenpoetologie
- 6. Luise Adelgunde Victorie Gottsched: „Die Pietisterey im Fischbein-Rocke“
- 7. Johann Elias Schlegel: „Die stumme Schönheit“
- 8. Christian Fürchtegott Gellert: „Die zärtlichen Schwestern“
- 9. Gotthold Ephraim Lessing: „Miß Sara Sampson“
- 10. Gotthold Ephraim Lessing: „Minna von Barnhelm“
- 11. Johann Wolfgang Goethe: „Stella“ (Fassung 1775)
- 12. Heinrich Leopold Wagner: „Die Kindermörderin“
- 13. Johann Wolfgang Goethe: „Iphigenie auf Tauris“ (Fassung 1787)
- Literaturverzeichnis
- Impressum
- 9.1. Einstieg
- 9.2. Vor der Lektüre
- 9.3. Bürgerliches Trauerspiel
- 9.4. Mitleid
- 9.5. Mitleid und Zorn
- 9.6. Übersicht Abgaben
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Im Jahr 1755 wird das Drama „Miß Sara Sampson“ neben anderen Schriften Lessings gedruckt und am 10. Juli in Frankfurt an der Oder uraufgeführt (vgl. Fick 2016, S. 133). Das Stück trägt den Untertitel „Ein bürgerliches Trauerspiel in fünf Aufzügen“, womit Lessing den Anstoß für eine neue dramatische Gattung in Deutschland gibt (vgl. Guthke 2006, S. 7).
In unterschiedlichen Lexika, wie beispielsweise dem „Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft“, wird herausgestellt, dass diese neue Gattung mit der Ständeklausel und der sogenannten ‚Drei-Einheiten-Lehre‘ breche. Des Weiteren sprächen die Figuren nicht mehr in streng metrisierten Versen und seien Teil einer bürgerlichen Welt. Damit stellten sich die Autor:innen bürgerlicher Trauerspiele hauptsächlich gegen die vorherrschende französische Tradition klassizistischer Dramen, die auch maßgeblich für das dramatische Werk und die Regelpoetik Johann Christoph Gottscheds waren (vgl. Eibl 2003, S. 286). Diese Zuschreibungen von Form und Inhalt bürgerlicher Trauerspiele kann aber durchaus problematisiert werden: Beispielsweise deuten die Titel einiger Figuren im Stück – „Miß“ und „Sir“ – darauf hin, dass sowohl Sara als auch ihr Vater dem englischen (Land-)adel angehören. Das Attribut ‚bürgerlich‘ in der Gattungsbezeichnung bezieht sich daher keineswegs notwendig auf den Stand der Figuren.
Dennoch stellt Lessing mit „Miß Sara Sampson“ insofern die Krise einer ‚bürgerlichen‘ Familie in den Mittelpunkt, als nicht mehr öffentliche oder staatlich-politische Angelegenheiten und Konflikte im Vordergrund stehen, wie oft noch im klassizistischen Barockdrama. In „Miß Sara Sampson“ ist der Konflikt zwischen Vater und Tochter zentral, anhand dessen das Scheitern und zugleich Gelingen einer ‚bürgerlichen‘ Ordnung exemplifiziert wird. Die Handlung ist häufig zum Scheitern verurteilt, weil der Kontrast zwischen häuslicher Privatheit und öffentlicher Repräsentationspflicht, die mit bestimmten Ehrbegriffen einhergeht, schwer zu vereinen ist. Des Weiteren wird die ‚bürgerliche‘ Familie zu einer Gefühlsgemeinschaft, in der besonders die Frau Trägerin einer ‚unschuldigen Tugend‘ wird (vgl. Brenner 2011, S. 76-77 und Greif 2013, S. 104-105).
Auch wenn dies nur eine mögliche Interpretationsweise des Bürgerlichen im bürgerlichen Trauerspiel ist, so weist sie auf einen wichtigen Aspekt der Gattung hin: Nicht allein die Familie bildet eine ‚Gefühlsgemeinschaft‘, sondern diese wird auch auf die Rezipient:innen erweitert (vgl. Viering 2007, S. 440). Der Erzeugung von Mitleid als Affekt kommt hier eine zentrale Bedeutung zu, wie u.a. auch die Reaktion des Publikums bei der Uraufführung vermuten lässt. Lessings Freund und Dichter Karl Wilhelm Ramler schreibt: „Herr Leßing hat seine Tragödie in Franckfurt spielen sehen und die Zuschauer haben drey und eine halbe Stunde zugehört, stille geseßen wie Statüen, und geweint“ (Ramler 1971, S. 88). Hinter dieser Reaktion, die Lessing – folgen wir seinen theoretischen Überlegungen – höchstwahrscheinlich intendiert hat, steht sein genuin poetologisches Verständnis von Mitleid: In seiner „Hamburgischen Dramaturgie“ formuliert er eine Neuperspektivierung der aristotelischen Katharsis-Lehre. Für Lessing trägt die Katharsis in der Tragödie zur moralischen Besserung der Zuschauerschaft bei. Die Affekte Jammer (‚eleos‘) und Schauder (‚phobos‘) – bei Lessing Mitleid (mit der Figur) und Furcht (als auf sich selbst bezogenes Mitleid) – ermöglichten es, ein moralisches Gefühl bei den Rezipient:innen zu erzeugen (vgl. Zelle 2007, S. 160-163). Je stärker und öfter die Rezipient:innen ein solches moralisches Gefühl in sich wahrnehmen, desto mehr disponiert es sie, dies auch jenseits des theatralen Raumes zu spüren und entsprechende Handlungen daraus folgen zu lassen. Insbesondere das Schicksal Saras dient hier der Erzeugung von Mitleid. Oftmals sind es Frauenfiguren im bürgerlichen Trauerspiel, die zum Dreh- und Angelpunkt der mitleidserregenden Handlung werden und damit für eine genderorientierte Analyse besonders aufschlussreich sind.
Lothar van Laak, Karima Lanius -
Textgrundlage:
Gotthold Ephraim Lessing: Miss Sara Sampson, hg. v. Wolfgang Keul, Stuttgart: Reclam 2020.
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