Dramaturgie der Geschlechter. Heldinnen der Komödien und Trauerspiele 1600-1800
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- 1. Überblick
- 2. Theoretische Grundlagen
- 3. Daniel Caspar von Lohenstein: „Sophonisbe“
- 4. Andreas Gryphius: „Catharina von Georgien“
- 5. Dramenpoetologie
- 6. Luise Adelgunde Victorie Gottsched: „Die Pietisterey im Fischbein-Rocke“
- 7. Johann Elias Schlegel: „Die stumme Schönheit“
- 8. Christian Fürchtegott Gellert: „Die zärtlichen Schwestern“
- 9. Gotthold Ephraim Lessing: „Miß Sara Sampson“
- 10. Gotthold Ephraim Lessing: „Minna von Barnhelm“
- 11. Johann Wolfgang Goethe: „Stella“ (Fassung 1775)
- 12. Heinrich Leopold Wagner: „Die Kindermörderin“
- 13. Johann Wolfgang Goethe: „Iphigenie auf Tauris“ (Fassung 1787)
- Literaturverzeichnis
- Impressum
- 11.1. Einstieg
- 11.2. Vor der Lektüre
- 11.3. Aufbau und Struktur
- 11.4. Geschlecht und Affekt
- 11.5. Sprache und Gefühl
- 11.6. Übersicht Aufgaben
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Goethes „Stella“ ist der seltene Fall eines Dramas, das bei nahezu gleichbleibender Handlung zwei verschiedene Enden kennt und damit die dramatische Gattung wechselt. Als das Stück im Januar 1776 erstmalig erschien, lautete der Untertitel „Ein Schauspiel für Liebende“. 1802-03 überarbeitete Goethe in enger Diskussion mit Friedrich Schiller vor allem den Schluss und schuf damit die Vorlage für die Aufführung am Weimarer Theater am 15. Januar 1806. In der Druckfassung dieser Überarbeitung, die 1816 erstmals in der 20-bändigen Ausgabe von Goethes „Werken“ (1815-1819) bei Cotta publiziert wurde, lautete der Titel nun schlicht „Stella. Ein Trauerspiel“. Was war passiert?
Bereits anlässlich des Erstdruckes und der Erstaufführung in Hamburg am 8. Februar 1776 kochten die Emotionen hoch. Goethe hatte geahnt, dass es „nicht ein Stück für jedermann“ (MA 2006, S. 714) sei, wie er bereits im August 1775 an Sophie von La Roche schrieb. Die Reaktionen auf das Stück, welches Goethe noch vor seinem Wechsel von Frankfurt nach Weimar 1775 fertiggestellt hatte, hatten ihm deutlich gemacht, dass angesichts der sittlichen Provokation, als die der Schluss des Stücks mit einer von allen Beteiligten gewollten Dreiecksbeziehung aufgefasst worden war, dieses wohl kaum zur Aufführung am Weimarer Hoftheater geeignet war und es einer Überarbeitung bedurfte.
Mit dem frühen Untertitel stellte Goethe sein „Schauspiel für Liebende“ in die Tradition des empfindsamen Dramas, wie es seit der Mitte des 18. Jahrhunderts populär geworden war. Die Rezipient:innen dürften ein Rührstück mit viel Tränen und starken Gefühlen erwartet haben, an dessen Ende die Personen auf und vor der Bühne über das Überwinden von Familienzwist, Liebeskummer und Schicksalsschlägen gerührt werden und, in ihrem eigenen Gefühlshaushalt gestärkt, moralisch erbaut zurückbleiben. Die Gattung des „zärtliche[n] Schauspiel[s]“, wie es Johann Adolf Schlegel in seiner Schrift „Von der Eintheilung der Poesie“ (1751) genannt hatte, avancierte in der Aufklärung zu einer der populärsten Dramenformen überhaupt. In diesem Genre zeichnet sich eine allgemeine Tendenz in der Dramenproduktion des 18. Jahrhundert ab. Ausgehend von Entwicklungen in Frankreich und England näherten sich die in der klassizistischen Tradition eigentlich streng geschiedenen Gattungen von Komödie und Tragödie an. Je stärker die zuvor gattungsregulierende Ständeklausel eine zunehmende Aufweichung erfuhr, desto wichtiger wurde der dramatische Ausgang in der Bedeutung für die Gattungszuschreibung. Dabei vermischten sich auch die mit den Gattungen verknüpften Wirkungsintentionen, die mittels der Affekte angestrebt wurden.
Wenn Goethe an seine Tante Johanna Fahlmer im März 1775 schreibt, dass die Wirkung seines Stücks darauf ziele, dass Menschen „sich erkennen, wo möglich wie ich sie erkannt habe, und sollen wo nicht beruhigter, doch stärker in der Unruhe sein“ (MA 2006, S. 714), dann überschreibt er mit einer solchen Konzeption von Liebe auch „die Funktion der göttlichen Gnadenmittel“ (Willems 2004, S. 13) der lutherischen Theologie – Stärkung in seelischer Unruhe bei den Wechselfällen des Lebens – an die Dichtung.
Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass insbesondere Autoren, die zu Goethes Frankfurter Umfeld gehörten, wie Friedrich Maximilian Klinger, Verfasser des der literarischen Strömung ihren Namen gebenden Dramas „Sturm und Drang“ (1776), sich enthusiastisch über das Stück äußerten. Sie sahen darin den unmittelbaren Ausdruck einer Goethe’schen Herzensschrift (so in einem Brief an Boie vom 30. Januar 1778, MA 2006, S. 720), hinter der gesellschaftliche Moral und religiöse Normvorstellungen zurückzutreten haben.
Wird also ein moralpragmatisches Verständnis von Literatur, wie es Johann Christoph Gottsched in seiner „Critischen Dichtkunst“ (1730) gefordert hatte und das seinen Widerhall in der theologischen Praxis des Umgangs mit Literatur fand, von einer solch radikal veränderten Auffassung von Dichtung herausgefordert, so aber eben auch jene Tradition der Empfindsamkeit, die sich im Verbund mit pietistischen Ideen innerlicher Frömmigkeit noch weitgehend auf dem Boden christlicher Sittlichkeit sah bzw. aus dieser hervorging. Für diese Tradition müsste die im Stück gezeigte Kopplung von Liebe und Sexualität die Grenzen der eigenen empfindsamen Liebeskonzeption sprengen, für die die Verbindung von Liebe und Ehe sowie von Liebe und Tugendhaftigkeit konstitutiv blieb (Willems 2004, S. 4).
Matthias Buschmeier
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Textgrundlage:
Johann Wolfgang Goethe: Stella. Ein Schauspiel für Liebende, in: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Bd. 1.2, hg. von Gerhard Sauder, München: Hanser 1987, S. 37-77.
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