Dramaturgie der Geschlechter. Heldinnen der Komödien und Trauerspiele 1600-1800
Kursthemen
- 1. Überblick
- 2. Theoretische Grundlagen
- 3. Daniel Caspar von Lohenstein: „Sophonisbe“
- 4. Andreas Gryphius: „Catharina von Georgien“
- 5. Dramenpoetologie
- 6. Luise Adelgunde Victorie Gottsched: „Die Pietisterey im Fischbein-Rocke“
- 7. Johann Elias Schlegel: „Die stumme Schönheit“
- 8. Christian Fürchtegott Gellert: „Die zärtlichen Schwestern“
- 9. Gotthold Ephraim Lessing: „Miß Sara Sampson“
- 10. Gotthold Ephraim Lessing: „Minna von Barnhelm“
- 11. Johann Wolfgang Goethe: „Stella“ (Fassung 1775)
- 12. Heinrich Leopold Wagner: „Die Kindermörderin“
- 13. Johann Wolfgang Goethe: „Iphigenie auf Tauris“ (Fassung 1787)
- Literaturverzeichnis
- Impressum
- 12.1. Einstieg
- 12.2. Vor der Lektüre
- 12.3. Kindsmörderinnen
- 12.4. Sprache der Affekte
- 12.5. Geschlechterspezifische Lektüreszenen
- 12.6. Trauer/Melancholie und Affekttat
- 12.7. Überblick Aufgaben
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Den allesamt jungen Dramatikern, die in Literaturgeschichten dem Sturm und Drang zugerechnet werden, ging es vor allem um die Darstellung von Leidenschaften. Deren hemmungs- und kompromissloses Ausleben bewunderten sie jedoch nicht ohne Vorbehalte. In ihren Dramen stellen sie vor allem die zerstörerischen Wirkungen einer die Affektkontrolle aufhebenden Leidenschaftlichkeit dar, wobei sie „die Reichweite und die Konsequenzen des Gefühls- und Leidenschaftsevangeliums gleichsam experimentell ausprobieren“ (Sørensen 2003, S. 218f.). Dieses Vorhaben spiegelt sich auch in der Form wider: Fast alle Dramen des Sturm und Drang gehören zu den atektonischen Dramen der offenen Form. Typischerweise ist ihr Aufbau sprunghaft und kommt ohne die Wahrung der drei Aristotelischen Einheiten aus. Die Stoffe waren häufig aus dem ‚wirklichen Leben‘ gegriffen, d.h. sie nahmen rechtliche, soziologische, ökonomische oder politische Themen der Zeit auf, kleideten sie aber zuweilen ins historische Gewand wie z.B. im Johann Wolfgang Goethes „Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand“ (1773).
Heinrich Leopold Wagners Trauerspiel „Die Kindermörderin“ (1776) liegt der Straßburger Rechtsfall der Maria Sophia Leypold zugrunde, für den sich auch Goethe interessierte. Sie wurde Mitte 1775 des Kindsmords angeklagt und zum Tod durch das Schwert verurteilt. Jan Matthias Rameckers mutmaßt, dass es sich jedoch um eine Totgeburt gehandelt haben muss, da die 22-Jährige im Januar 1776 durch Ludwig XVI. begnadigt und zu lebenslanger Haft verurteilt, schließlich am 14. August 1788 freigelassen wurde. Für Rameckers lässt dies den Schluss zu, dass „schwerwiegende mildernde Umstände vorgelegen haben müssen, durch die das Todesurteil dann umso schrecklicher erscheinen mußte“ (Rameckers 1927, S. 143f.).
Betrachtet man die Dichtungen der Stürmer und Dränger, so ist das Motiv des Kindsmords eines der gängigsten. U.a. Gottfried August Bürger, Jakob Michael Reinhold Lenz, Maler Müller und später Friedrich Schiller behandeln es in ihren Werken. Doch allein Heinrich Leopold Wagner hat es auf die offene Bühne gebracht. Denn wenn auch in Johann Wolfgang Goethes „Urfaust“ die Blutspur von Gretchens Kindsmord bis in den Kerker führt, so wird die vorangegangene Tat erst in der Verdichtung zum halluzinatorischen Bild rekonstruiert.
Im vierzehnten Buch des dritten Teils von „Dichtung und Wahrheit“ schreibt Goethe über Heinrich Leopold Wagner: „Vorübergehend will ich nur, der Folge wegen, noch eines guten Gesellen gedenken, der, obgleich von keinen außerordentlichen Gaben, doch auch mitzählte. Er hieß Wagner, erst ein Glied der Straßburger, dann der Frankfurter Gesellschaft; nicht ohne Geist, Talent und Unterricht. Er zeigte sich als ein Strebender, und so war er willkommen. Auch hielt er treulich an mir, und weil ich aus allem was ich vorhatte kein Geheimnis machte, so erzählte ich ihm wie andern meine Absicht mit Faust, besonders die Katastrophe von Gretchen. Er faßte das Sujet auf, und benutzte es für ein Trauerspiel, Die Kindesmörderin. Es war das erste Mal, daß mir jemand etwas von meinen Vorsätzen wegschnappte; es verdroß mich, ohne daß ich’s ihm nachgetragen hätte. Ich hatte dergleichen Gedankenraub und Vorwegnahme nachher noch oft genug erlebt und hatte mich, bei meinem Zaudern und Beschwätzen so manches Vorgesetzten und Eingebildeten, nicht mit Recht zu beschweren.“ (Goethe 1962, S. 146f.)
Goethe fasst im angeführten Zitat ein Thema als sein geistiges Eigentum auf, das zeitgenössisch in vielen Bereichen, u.a. in juristischen, medizinischen, philosophischen, kriminologischen, theologischen und literarischen Auseinandersetzungen heftig diskutiert wurde. Goethe selbst hatte in seiner juristischen Disputation 1771 in Straßburg in seinen vorgetragenen 56 Thesen „Positiones Juris“ in lateinischer Sprache u.a. auch zur Todesstrafe bejahend Stellung bezogen, sich aber im Falle des Kindsmords mit dem Hinweis auf die Strittigkeit dieser Frage unter den Gelehrten begnügt (vgl. Schubart-Fikentscher 1949).
Vielfach wurde gemutmaßt, dass Goethes Einschätzung der mangelnden „Gaben“ Wagners sowie der Plagiatsvorwurf die harschen Urteile mitbedingten, die sich in den Literaturgeschichten des 19. Jahrhunderts über Wagners Stück „Die Kindsmörderin“ und nicht selten auch in jüngeren Literaturgeschichten des 20. Jahrhunderts finden. Georg Gottfried Gervinus meinte, es sei „ein Stück voll entsetzender Gemeinheit und Rohheit“ (Gervinus 1853: Bd. 4, S. 535). Für Hermann Hettner ist es ebenfalls, „von unsäglicher Rohheit und Geschmacklosigkeit […] alles ist auf den gemeinsten und widerwärtigsten Boden übertragen“ (Hettner 1894, S. 234). Und Eduard Engel sieht in Wagners Behandlung des Kindermöderinnen-Stoffes einen „derbe[n] Griff in die Wirklichkeit hinein“ (Engel 1904: Bd. 1, S. 467). Doch diese Einschätzungen mögen auch durch die zahlreichen Regelbrüche und Tabuverletzungen in Wagners Stück bedingt sein: Wagners Inszenierung des Kindsmords auf offener Bühne zählt – wie bereits die Wahl eines Bordells als Schauplatz für den ersten Akt sowie das kaum verhüllte „[i]nnwendig[e] Getös“ der Verführungsszene – zu jenen drastischen Verstößen gegen den sogenannten ‚guten Geschmack‘, die eine Aufführung des Stücks lange verhinderten. Stattdessen liest Wagner am 18. Juli 1776 in der „Deutschen Gesellschaft“ aus seiner „Kindermörderin“, wie es das Protokoll der Straßburger Tischgesellschaft vermerkt (vgl. Lepper/Steitz/Benn u.a. 1983, S. 255). Die deutsche Erstaufführung der Originalfassung findet erst 125 Jahre später, 1904, in Berlin statt.
Tanja A. Kunz
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Textgrundlage:
Heinrich Leopold Wagner: Die Kindermörderin. Ein Trauerspiel, hg. v. Jörg-Ulrich Fechner, Stuttgart: Reclam 2010.
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