Dramaturgie der Geschlechter. Heldinnen der Komödien und Trauerspiele 1600-1800
Tematyka
- 1. Überblick
- 2. Theoretische Grundlagen
- 3. Daniel Caspar von Lohenstein: „Sophonisbe“
- 4. Andreas Gryphius: „Catharina von Georgien“
- 5. Dramenpoetologie
- 6. Luise Adelgunde Victorie Gottsched: „Die Pietisterey im Fischbein-Rocke“
- 7. Johann Elias Schlegel: „Die stumme Schönheit“
- 8. Christian Fürchtegott Gellert: „Die zärtlichen Schwestern“
- 9. Gotthold Ephraim Lessing: „Miß Sara Sampson“
- 10. Gotthold Ephraim Lessing: „Minna von Barnhelm“
- 11. Johann Wolfgang Goethe: „Stella“ (Fassung 1775)
- 12. Heinrich Leopold Wagner: „Die Kindermörderin“
- 13. Johann Wolfgang Goethe: „Iphigenie auf Tauris“ (Fassung 1787)
- Literaturverzeichnis
- Impressum
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Die Komödie der Aufklärung in Deutschland nimmt hier ihren Anfang.“ Mit diesen Worten beschließt Wolfgang Martens sein Nachwort zur „Pietisterey im Fischbein-Rocke oder die doctormäßige Frau“ in der Reclam-Ausgabe (2020, S. 171) und würdigt damit das Stück aus der Feder von Luise Adelgunde Victorie Gottsched (vgl. dazu auch Bannasch 2009, S. 253), in der Gepflogenheit der Zeit auch die Gottschedin genannt.
Luise Adelgunde Victorie Gottsched, geb. Luise Kulmus, galt zu ihrer Zeit und bis heute als eine Frau von hoher intelligenter Begabung. Allerdings lehnte sie es ab zu doktorieren oder in die „Deutsche Gesellschaft“, die Sprachgesellschaft ihres Mannes Johann Christoph Gottsched, aufgenommen zu werden. Sie vermied auch zeitlebens die öffentliche Anerkennung auf dem Büchermarkt. Ihr Exempel kann – im Unterschied beispielsweise zu Christiane von Ziegler, Dorothea Leporin Erxleben oder Charlotte Unzer – als zeitgeschichtliches Paradebeispiel für die Zurückgezogenheit vieler Autorinnen des 18. Jahrhunderts betrachtet werden.
Die von der Gottschedin verfassten Originalwerke wurden meist als Mustertexte für die Poetologie ihres Mannes rezipiert (vgl. Richel 1973; Sanders 1980; Schlenther 1986; Wurst 1991; Hollmer 1994; Saße 1996). Schon Lessing hatte im 13. Stück seiner „Hamburgischen Dramaturgie“ spöttisch über die Gottschedin geschrieben, sie sei eine „viel zu brave Ehefrau, als daß sie sich nicht den kritischen Aussprüchen ihres Gemahls blindlings hätte unterwerfen sollen“. Doch neben dieser Annahmen lässt sich zeigen, dass Luise Gottsched der normativen Regelpoetik ihres Mannes auch kritisch gegenüberstand und diese in ihren Stücken unterschwellig unterlief (Bohm 1986; Ball 2000). Aus ihren Briefen geht außerdem hervor, dass sie nicht der Ansicht ihres Mannes war, Kunst lasse sich durch Regeln erzeugen. Insbesondere die feministische Forschung hat sich auf der Grundlage der klassischen Kreativitätstheorie darum bemüht die Unabhängigkeit der Gottschedin von ihren Vorlagen und der Regelpoetik ihres Mannes zu belegen (vgl. z.B. Bohm 1986; Kord 1992; Kaiser 1996).
Literatur ist für Johann Christoph Gottsched eine pädagogische Institution zur Verbreitung philosophisch-weltanschaulicher Leitideen der Aufklärung. Drama und Theater sind konzeptionell auf eine soziale Wirkung hin angelegt. Sie dienen als Vermittlungsinstanzen für die gesellschaftlichen Botschaften im Sinne der Etablierung des bürgerlichen Moral- und Tugendsystems der Aufklärung (vgl. Steinmetz 1987, S. 31). Gemäß Gottscheds Komödientheorie basiert die sogenannte ‚Typenkomödie‘, auch ‚Sächsische Typenkomödie‘ genannt, auf sozialen Stereotypisierungen. Es kommt zu einer Festlegung der komischen Figuren auf bestimmte, fixierte Charaktereigenschaften. Bei der „Pietisterey im Fischbein-Rocke“ geraten die Pietisten in den Blick der Konfessionssatire (ähnlich wie auch in Johann Christian Krügers „Die Geistlichen auf dem Lande“ von 1743). Dadurch steht jedoch statt einer individuell bedingten Unvernunft, statt einer einzelnen menschlichen Schwachheit das Verhalten einer ganzen gesellschaftlichen Gruppe im Zentrum der Kritik. In anderen Werken geraten ganze Schichten ins satirische Visier, wie z.B. bei der Adelskritik in L. A. V. Gottscheds „Die ungleiche Heirat“ (1743), in Johann Christian Krügers „Die Candidaten oder die Mittel zu einem Amt zu gelangen. Ein Lustspiel in fünf Handlungen“ (1747) oder in Johann Elias Schlegels „Die Pracht zu Landheim“ (1764). In „Die Hausfranzösin oder die Mamsell“ (1744) von L. A. V. Gottsched wird die allgemeine Frankomanie verlacht. Mit einem solchen Vorgehen wird Johann Christoph Gottscheds Ansinnen bereits erweitert, was sich historisch auch daran zeigt, dass diese Stücke in ungleich stärkerem Maße sozialpolitischen Sprengstoff enthalten; denn sie begnügen sich nicht mit der Verspottung relativ harmloser Normabweichungen.
Wie sozialpolitisch gefährlich die satirische Behandlung ganzer Personengruppen und Schichten war, zeigt das großes Aufsehen, für das das anonym erschienene Stück „Die Pietisterey im Fischbein-Rocke“ nach seiner Veröffentlichung im Jahre 1736 sorgte. Es wurde zunächst Pastor Neumeister aus Hamburg zugeschrieben und unmittelbar nach Erscheinen von der Zensur verboten. Die vorhandenen Exemplare wurden versiegelt und vertreibende Buchhändler zur Rechenschaft gezogen. Friedrich Wilhelm I. nannte es eine „recht gottlose Schmähschrift“ und das Stück trug in der Folge zum verschärften Zensuredikt in Preußen vom 24. Feburar 1737 bei (vgl. Consentius 1903), das den Druck, die Einfuhr und die Verbreitung von Schriften regelte. Die Autorschaft von Luise Adelgunde Victorie Gottsched wurde erst nach ihrem Tod bekannt. Es war das einzige Stück der sogenannten ‚Gottschedin', das ihr Mann nicht in die „Deutsche Schaubühne“, seine sechsbändige Sammlung von Lust-, Trauer- und Schäferspielen, aufnahm, die als Mustersammlung Gottsched’scher Manier galt.
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Textgrundlage:
Luise Adelgunde Victorie Gottsched: Die Pietisterey im Fischbein-Rocke, hg. v. Wolfgang Martens, Stuttgart: Reclam 2020.
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