Dramaturgie der Geschlechter. Heldinnen der Komödien und Trauerspiele 1600-1800
Abschnittsübersicht
- 1. Überblick
- 2. Theoretische Grundlagen
- 3. Daniel Caspar von Lohenstein: „Sophonisbe“
- 4. Andreas Gryphius: „Catharina von Georgien“
- 5. Dramenpoetologie
- 6. Luise Adelgunde Victorie Gottsched: „Die Pietisterey im Fischbein-Rocke“
- 7. Johann Elias Schlegel: „Die stumme Schönheit“
- 8. Christian Fürchtegott Gellert: „Die zärtlichen Schwestern“
- 9. Gotthold Ephraim Lessing: „Miß Sara Sampson“
- 10. Gotthold Ephraim Lessing: „Minna von Barnhelm“
- 11. Johann Wolfgang Goethe: „Stella“ (Fassung 1775)
- 12. Heinrich Leopold Wagner: „Die Kindermörderin“
- 13. Johann Wolfgang Goethe: „Iphigenie auf Tauris“ (Fassung 1787)
- Literaturverzeichnis
- Impressum
- 8.1. Einstieg
- 8.2. Vor der Lektüre
- 8.3. Figurenzeichnung
- 8.4. Liebeskonzeptionen
- 8.5. Kommunikation
- 8.6. Übersicht Aufgaben
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Christian Fürchtegott Gellerts Drama „Die zärtlichen Schwestern“ wurde 1747 verfasst und entweder im selben Jahr (Schwarz 2001, S. 65) oder 1749 (Daunicht 1963, S. 73) in Leipzig uraufgeführt. Sein Autor ist vor allem als Dichter von Fabeln und Lehrgedichten bekannt, die ihn ab 1746 (in diesem Jahr erscheint der Band „Fabeln und Erzählungen“) recht schnell berühmt machten. Gellert genoss seinerzeit bei Leser:innen und Schriftstellerkolleg:innen hohes Ansehen, nahm aktiv an den zeitgenössischen Debatten über Literatur, Rhetorik, Philosophie, Theater und anderen Themen teil und gilt als einer der wichtigsten Vertreter der Aufklärung im deutschsprachigen Raum. Daneben gilt er auch als wichtiger Popularisierer von Literatur als Medium gesellschaftlichen Austauschs. Sein Stück „Die zärtlichen Schwestern“ trug dazu bei, das Modell des ‚rührenden Lustspiels‘, theoretisch formuliert in seiner „Abhandlung für das rührende Lustspiel“ von 1751, auf den deutschen Bühnen zu etablieren (vgl. Daunicht 1963, S. 65f.) und weist „entwicklungsgeschichtlich auf das kommende bürgerliche Trauerspiel voraus“ (Wölfel 1964). Gellert orientierte sich an französischen Vorbildern, etwa den Stücken Denis Diderots, und siedelt die Handlung seines Dramas nicht mehr im adligen Milieu an. Bürgerliche Figuren werden als aufgeklärt und empfindsam dargestellt und ihre Probleme werden potenzieller Stoff von nicht-komischen Theaterstücken. Der Text steht in diesem Textpaket also für einen neuen Dramentyp und bietet zugleich die Möglichkeit, neue Aspekte der Geschlechts- und Liebeskonzepte zu rekonstruieren, die sich im 18. Jahrhundert ausbilden.
Besonders interessant ist, wie die Figuren in den „Zärtlichen Schwestern“ dialogisch ihre Standpunkte begründen und wie sich ihre Gefühle bzw. Affekte zeigen. Das geschieht längst nicht immer sprachlich. Besonders an Julchen wird ein Konflikt zwischen ‚Sprache‘, ‚Gefühl‘ und ‚Wissen‘ dargestellt. Die Konstellation der beiden unverheirateten Schwestern, um deren Vermählungen die Handlung kreist, ist der anderer Stücke der Zeit, etwa von Schlegels „Stummer Schönheit“, sehr ähnlich. Das Problem verlagert sich bei Gellert nun vollständig auf die Kindergeneration, also die Töchter, und ihre potenziellen Partner selbst. Der autoritative Spielraum der Elternfiguren erscheint gegenüber früheren Stücken deutlich eingeschränkt, wenngleich entsprechende Gesten nach wie vor präsent sind. Cleon etwa, Vater von Julchen und Lottchen, entspricht bereits stark dem Typus des ‚zärtlichen Vaters‘, beruft sich aber in Teilen noch immer auf die Autorität seiner Rolle (vgl. Lukas 2005, S. 158). Er, Simon (der Vormund von Damis, der Julchen heiraten möchte), vor allem aber Cleons Bruder, der Magister, repräsentieren zwar zum Teil noch ein ‚altes‘ Beziehungsmodell, wirken aber nicht mehr autoritär auf die Partnerwahl der Schwestern ein, sondern versuchen, argumentativ zu überzeugen.
Das zentrale Problem des neuen Beziehungsmodells liegt in dem Wunsch, einen Partner zu wählen, zu dem eine emotionale Verbindung besteht, dabei aber nie ganz sicher sein zu können, ob es das Gegenüber mit seinen Bekundungen, die zumeist sprachlich erfolgen, auch wirklich ernst meint. Zwischen den Gefühlen der Figuren und ihrem Handeln liegt die für Heimtücke und Verstellung anfällige Sprache als potenziell krisenhaftes Medium. Das lässt sich zunächst an der Beziehung von Lottchen und Siegmund nachvollziehen. Die beiden verbindet nicht eine leidenschaftliche und intensive ‚Liebe‘, wie sie etwa in Stücken des Sturm und Drang begegnet, sondern vielmehr eine tiefe und betont aufrichtige Zugeneigtheit, die nach heutigen Maßstäben eher als Sympathie oder ‚freundschaftliches Wohlwollen‘ zu bezeichnen wäre (vgl. Titzmann 2012, S. 338). Sie soll ihrem Wesen nach nicht leidenschaftlich, sondern beständig sein, auf vernünftigen Prinzipien beruhen (vgl. Greis 1991, S. 37) und beide Partner dauerhaft glücklich machen. Das Glück des einen ist ohne das des anderen nicht zu denken (vgl. Saße 1996, S. 114). Damit wird die Ehe zu einer politischen Institution, die als Instanz von Vergemeinschaftung einerseits Öffentlichkeit herstellt (vgl. ebd., S. 99), sich aber zugleich im privaten Raum der bürgerlichen Familie konstituiert, wo Offenheit und Aufrichtigkeit, anders als im höfischen Milieu, das hiermit abgewertet wird, die Regeln für das Zusammenleben der Akteure vorgeben. Trotzdem bestehen auch hier Gefahren: Personen können sich einerseits verstellen und ihre wahren Absichten hinter dem Schein schöner Beteuerungen verbergen. Andererseits kann es passieren, dass eine Figur sich über ihre Gefühle selbst nicht im Klaren ist und Dinge sagt, die im Widerspruch zu ihren wahren Intentionen stehen. Davon, wie in beiden Fällen zu handeln ist und wie positive Verbindungen dennoch gelingen können, handelt Gellerts Stück.
Alexander Wagner -
Textgrundlage:
Christian Fürchtegott Gellert: Die zärtlichen Schwestern, hg. v. Horst Steinmetz, Stuttgart: Reclam 2018.
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