Text: Medien.Rezeption
4.3 Was tut der*die Nutzer*in bei der Medienauswahl (Selektion)?
Nach dem Uses-and-Gratifications-Ansatz gilt der*die Rezipient*in von Medien bereits seit den 1970er Jahren als aktiv. Damit rückten Intentionen, Motive und Bedürfnisse der Nutzer*innen als Erklärungsfaktor für das Medienhandeln in den Fokus. Die Nutzer*innen bestimmen demnach bewusst darüber, ob ein Kommunikationsprozess stattfindet oder nicht. Medienkonsument*innen treffen eine Auswahl bestimmter Medienformen, -angebote oder -inhalte aus den verfügbaren medialen und nicht-medialen Optionen (vgl. Vogel et al. 2007). Auf diese bewussten Entscheidungen haben verschiedene Eigenschaften und Bedarfe der Rezipient*innen einen Einfluss (vgl. Wulf et al. 2023).
Aufgabe
Bearbeiten Sie die folgende Aufgabe mithilfe des nachfolgenden Textes: Einflussfaktoren bei der Medienauswahl
1. Dispositionen, entwicklungsbezogene Variablen und soziale Einflüsse
Eine Veranlagung (Disposition), die sich auf die Mediennutzung auswirkt, ist Need for Cognition, d.h. wie gerne jemand nachdenkt. Personen mit niedrigem Need for Cognition haben z.B. eine höhere Präferenz für bereits gespoilerte Filme als Personen mit einem höheren Need for Cognition. Mit dem Alter steigt zudem das Interesse an Medieninhalten, die Bedeutung schaffen und Sinnfragen thematisieren. Eine Studie aus dem Jahr 2010 zeigte, dass Frauen romantische Filme bevorzugen, Männer Actionfilme und schwarze Komödien. Daneben spielte auch die Stimmung der Person bei der Medienwahl eine Rolle (s.u.). Hinsichtlich des sozialen Umfeldes zeigte sich in einer Studie aus dem Jahr 2017 bspw., dass Kinder mehr lernbezogene und weniger gewalthaltige Medieninhalte konsumierten, wenn ihre Eltern sie aktiv dazu ermutigten (vgl. Wulf 2023).
2. Suche nach Konsistenz
Personen neigen dazu, Medienangebote auszuwählen, die zu ihren bereits vorhandenen Einstellungen passen. Der Grund ist, dass Menschen den Wunsch haben, in ihren Einstellungen, ihrem Verhalten und in sozialen Beziehungen konsistent zu sein und kognitive Dissonanz zu vermeiden. Widersprüchlichkeit (Inkongruenz) von Kognition und Verhalten führen demnach zu einem als unangenehm empfundenen Spannungszustand. Dieser muss wieder entspannt werden, sodass eine sorgfältige Medienauswahl, die stimmig (konsonant) mit den eigenen Einstellungen ist, die einfachste Strategie darstellen kann. Die Vermeidung unstimmiger (dissonanter) Inhalte und die Präferenz, sich mit ähnlich denkenden Menschen zu umgeben, kann als Erklärungsansatz für die Entstehung von Echokammern dienen (siehe Einheit Medien.Identität).
3. Bedürfnisbefriedigung
Nach dem Uses-and-Gratifications-Ansatz dient die Nutzung von Medienangeboten dem Erreichen gewünschter Wirkungen. Menschen wählen Medieninhalte also bedürfnisorientiert aus. Bspw. haben Menschen ein Bedürfnis nach einem kurzen Entfliehen aus dem realen Alltag (Eskapismus, s.u.), nach Unterhaltung oder nach Information. Uses-and-Gratifications-Ansatz wird dabei dafür kritisiert, dass er die aktive Rolle der Nutzer*innen überschätzt, da viele Nutzungsprozesse bestimmten Gewohnheiten folgen. Insbesondere in Zeiten mobiler Endgeräte werden viele Nutzungsentscheidungen unbewusst getroffen, da ein Gerät, das viele Nutzungszwecke erfüllen kann, ständig verfügbar ist (vgl. Leaning 2017). Dadurch wird gewohnheitsmäßig nach dem Smartphone gegriffen, ohne dass der Gebrauch jedes Mal bewusst initiiert wird (s.u.). Gleichzeitig wird angezweifelt, dass Motive und Bedürfnisse, die zur Wahl eines Mediums geführt haben, immer bewusst artikulierbar sind.
Ein Erklärungsansatz für eine mehr oder weniger bewusst ablaufende Bedürfnisbefriedigung beim Medienkonsum könnte die Selbstbestimmungstheorie der Motivation sein. Diese besagt, dass Menschen drei psychologische Grundbedürfnisse haben, nach deren Befriedigung sie in allen Lebensbereichen streben. Je stärker die Bedürfnisse erfüllt sind, desto selbstbestimmter ist die Motivation, mit der Handlungen ausgeführt werden. Die Bedürfnisse, nach deren Erfüllung Menschen streben, sind die Bedürfnisse nach Autonomie, Kompetenz und sozialer Eingebundenheit. Autonomie bedeutet ein Gefühl der Freiwilligkeit und der Handlungsverursachung, Kompetenz ein Gefühl der Fähigkeit, die auszuführende Handlung durchzuführen, und soziale Einbindung ein Gefühl der Zugehörigkeit zu den in der Situation relevanten Anderen. Auch Medienkonsum kann diese Bedürfnisse mehr oder weniger befriedigen. Man kann bspw. ein Lehrbuch gezwungenermaßen lesen, eine Serie bei Netflix aber aus eigenem Antrieb ansehen (Autonomie). Beim Lesen des Lehrbuches kann man sich angenehm gefordert fühlen, die Handlung der Serie aber als zu komplex empfinden und ihr nicht folgen können (Kompetenz). Beim Lesen des Lehrbuches kann man sich gut in eine Lektüre-Lerngruppe integriert fühlen, während man die Serie allein schaut und auch keine Ansatzpunkte für eine Identifikation mit den Rollen findet (soziale Einbindung). Zu Beginn mag man mit dem Lesen des Lehrbuches für die Klausurvorbereitung sehr wenig selbstbestimmt (external) motiviert begonnen haben, aber durch das positive Erleben kann sich dies etwas weiter in Richtung selbstbestimmter Motivation verschieben (Internalisierung). Der Grund für das Lesen des Lehrbuches bleibt aber ein instrumenteller, denn es dient vornehmlich der Vorbereitung auf eine Klausur o.Ä. (extrinsische Motivation). Bei der Serie startete der Medienkonsum wahrscheinlich intrinsisch motiviert, d.h. der Grund für die Handlung war die Handlung selbst (autotelisch). Das Schauen der Serie sollte Freude bereiten. Auf Grund des Erlebens während des Schauens und ohne Vorliegen eines äußeren Grundes, die Handlung fortzusetzen, wird der*die Nutzer*in das Ansehen der Serie vermutlich einstellen (Amotivation) und sich mit der Hoffnung auf intrinsisches Erleben einer neuen Serie zuwenden.
Stop and Think
Können Sie benennen, welche Bedürfnisse Ihr Medienkonsum bedient?
4. Reichhaltigkeit des Mediums
Wenn feststeht, dass ein Kommunikationsmedium gebraucht wird, dann ist auch die Reichhaltigkeit der Möglichkeiten, die die zur Verfügung stehenden Medien bieten, ein Entscheidungskriterium für die Wahl eines Medienkanals (Media Richness Theory). Dabei sind die Form der Kommunikation (mündlich/schriftlich, synchron/asynchron, mit/ohne Bildübertragung) und die technischen Möglichkeiten (digitaler Versand oder Übertragung von Dokumenten, gemeinsame Bearbeitung von Dokumenten) ausschlaggebend. Für eine Terminabsprache wird also vielleicht zu Telefon, Chatprogramm oder E-Mail gegriffen. Für eine inhaltliche Besprechung kann eine Videokonferenz-Software die bessere Wahl sein.
5. Gewohnheiten (Vogel et al. 2007)
Wie bereits im Zusammenhang mit dem Uses-and-Gratifications-Ansatz kritisch reflektiert, spielen auch Gewohnheiten bei der Wahl von Medien eine Rolle. Manche Nutzungshandlungen werden gewohnheitsmäßig ohne Nachdenken durchgeführt, d.h., sie sind stark habitualisiert, wie z.B. der Griff zum Handy, um die Antwort auf eine Frage zu finden, die in einem Gespräch aufkommt, oder das Einschalten des Fernsehers um 20:15 Uhr. In diesen Fällen wird selten eine bewusste Nutzungsentscheidung getroffen, sondern aus Gewohnheit eine mediale Lösung gewählt, sei es zur Informationsrecherche oder zur Unterhaltung in der abendlichen Freizeit. Dieser als »passiv« bezeichnete Umgang mit Medien wird auch häufig mit »minderwertigen« Nutzungsmotiven in Verbindung gebracht, was jedoch vor dem Hintergrund einer effektiven Nutzung von Faustregeln (Heuristiken) im Alltag unangemessen ist. Die durch die Faustregeln eingeschliffenen Routinen können entlasten und automatisiert für die Erfüllung bestimmter Bedürfnisse im Alltag sorgen (vgl. Vogel et al. 2007).
6. Emotionen und Stimmung (Vogel et al. 2007)
Nach der Mood-Management-Theorie wählen Menschen Medieninhalte aus, um negative Befindlichkeiten zu minimieren und positive Befindlichkeiten zu maximieren (hedonistisches Prinzip). Dabei geht es um den Ausgleich des durch die Psyche hervorgerufenen körperlichen (psychophysiologischen) Erregungsniveaus, das auf einem angenehmen Maß gehalten werden soll. Ist es zu niedrig (z.B. bei Langeweile) oder zu hoch (z.B. bei negativem Stress), werden Medieninhalte so ausgewählt, dass ein als angenehm empfundenes Level wiederhergestellt wird. Die Mood-Management-Theorie bietet auch einen Ansatzpunkt für die Kritik am Uses-and-Gratifications-Ansatz, indem sie plausibel macht, dass Personen ihre Mediennutzungsentscheidungen, die sie auf Grund von Emotionen getroffen haben, nachträglich rationalisieren und dabei sozial erwünschte Nutzungsmotive berichten. Der Widerspruch, dass fast immer rationale Nutzungsmotive genannt werden können, auch wenn die durchgängig kognitiv gesteuerte Medienauswahl in Frage gestellt werden kann, lässt sich mit dieser Annahme auflösen.
Stop and Think
Haben Sie Nutzungsgewohnheiten, was bestimmte Medien angeht? Glauben Sie, dass diese Gewohnheiten rational begründet sind oder dass sie eher aus Emotionen heraus entstanden sind?
Take Home Message
Die Medienauswahl, die ein*e Nutzer*in trifft, wird von vielen bewussten und unbewussten Aspekten gesteuert. Es wird allerdings davon ausgegangen, dass die rezipierende Person rationale Gründe für ihre Nutzerentscheidungen anführen kann.