Text: Medien.Rezeption
4.5 Was tut der*die Nutzer*in nach der Mediennutzung?
Die Medienwirkungsforschung hatte lange einen engen und negativen Blick auf die Wirkung von Medienbotschaften, z.B. im Rahmen von Persuasionsforschung, d.h. Forschung zur Beeinflussung von Einstellungen (vgl. Wulf et al. 2023; s.u.). Der aktuelle Blick ist komplexer und umfasst alle ganz oder teilweise kausal dem Medienkonsum zuzuschreibenden direkten und indirekten Veränderungen und Stabilisierungen. Diese Veränderungen oder Stabilisierungen können einzelne Individuen oder Gruppen bzw. die gesamte Gesellschaft betreffen und kurz- oder langfristig sein (vgl. Wulf et al. 2023).
Dadurch, dass Medienkonsum bestimmte Faktoren, wie bspw. die Meinung einer Person, nicht nur verändern, sondern auch stabilisieren kann (siehe Einheit Medien.Identität, Reinforcing Spirals), lassen sich Medienwirkungen sehr schwierig empirisch erfassen (vgl. Wulf et al. 2023).
Eine wichtige Frage für die Medienpsychologie ist dabei, wie sich der Medienkonsum auf die darauffolgenden Eindrücke und Urteile auswirkt. Durch Priming werden während des Medienkonsums im Gedächtnis gespeicherte Inhalte aktiviert und sind dadurch kurz- oder längerfristig für die Interpretation der nachfolgenden Informationen verfügbar (vgl. Trepte et al. 2021). Die während des Medienkonsums wahrgenommenen Stimuli sind dabei der Prime und die nachfolgenden Informationen das Target, für das die aktivierten Gedächtnisinhalte eine erhöhte vorübergehende (Temporary Accessibility) oder dauerhafte Zugänglichkeit (Chronic Accessibility) haben. Normalerweise hat einmaliges Priming nur eine vorübergehende Wirkung von 15 bis 20 Minuten. Mehrmaliges Priming mit demselben oder ähnlichen Stimuli kann zu dauerhaften Priming-Effekten führen, indem aufeinanderfolgende kurzzeitige Primings kumulieren (vgl. Trepte et al. 2021). Dadurch können Stereotype verstärkt und bestimmte Bilder (politischer) Akteur*innen transportiert werden (vgl. Trepte et al. 2021).
Abb. 4.2: Viele aufeinanderfolgende Primings führen zu dauerhaften Eindrücken
Beispiel
Während der Wahlkampagnen zur Bundestagswahl 2021 wurden wiederholt unwahre negative Informationen über Annalena Baerbock von den Grünen in Umlauf gebracht und mit angeblichen Belegen untermauert: »Mal wird ihr eine Vergangenheit als Nacktmodell angehängt, dann soll sie Parteifreunde ohne Maske umarmt haben, ihr Uni-Abschluss wird angezweifelt. Baerbock will angeblich Haustiere verbieten, um CO2 einzusparen, und die Witwenrente abschaffen, um das Geld für die Integration von Flüchtlingen auszugeben.« (Bubrowski/Budras 2021) Dies kann dauerhaft zu einer Übertragung des Eindrucks einer unehrlichen Person mit zweifelhaften politischen Zielen auf zukünftige Auseinandersetzungen mit Frau Baerbock zunächst als Kanzlerkandidatin und nach der Wahl als Außenministerin zur Folge gehabt haben. Gleichzeitig bedient es das Stereotyp, dass Frauen für Führungspositionen nicht geeignet sind.
Beispiel (Trepte et al. 2021)
Studien deuten darauf hin, dass eine klischeehafte Medienberichterstattung dazu führen kann, dass Menschen eine verzerrte Meinung über Angehörige bestimmter ethnischer Gruppen entwickeln. Ein Beispiel stammt aus einem Experiment von Arendt (2015). In diesem Versuch wurden die Teilnehmenden der Experimentalgruppe mit Zeitungsartikeln konfrontiert, in denen Straftaten behandelt wurden. Dabei wurden die Täter*innen explizit als Personen mit ausländischem Hintergrund identifiziert. Im Gegensatz dazu las die Kontrollgruppe dieselben Artikel, allerdings ohne jegliche Erwähnung der Nationalität der Täter*innen. Nach Abschluss des Experiments zeigte die Experimentalgruppe im Vergleich zur Kontrollgruppe eine signifikante Tendenz, den Anteil von Ausländer*innen an der Gesamtzahl der Straftaten überzubewerten. Dies zeigt, dass die Berichterstattung offensichtlich das negative Stereotyp des »kriminellen Ausländers« aktiviert und dadurch ihre nachfolgende Wahrnehmung der Realität beeinflusst hat (vgl. Eckert et al. 2021; Schattauer 2023).
Es können nicht nur wie beim Priming bereits vorhandene Gedächtnisinhalte aktiviert werden, sondern auch neue Gedächtnisstrukturen durch Medieninhalte entstehen (vgl. Trepte et al. 2021). Die sozial-kognitive Theorie der Massenkommunikation besagt, dass die Akteur*innen in den Medien die Gedanken und das Verhalten der Rezipient*innen beeinflussen, indem sie als Vorbilder und Modelle für soziales Lernen dienen (siehe Einheit Medien.Identität). Dabei bauen die Rezipient*innen neues Wissen auf und eignen sich neue Verhaltensweisen an (vgl. Trepte et al. 2021). Beispiele sind schlanke und sportliche Körperbilder und Essverhalten sowie Einstellungen zu unverbindlichem Sex.
Beispiele (vgl. Trepte et al. 2021)
In den sozialen Medien verbreiten nicht nur Prominente, sondern auch nicht prominente Nutzer*innen Inhalte zu Fitness, Schönheit und Ernährung (siehe Einheit Medien.Identität). Ihre Beiträge, die schlanke Körperbilder, viel Sport und kalorienarme Ernährung darstellen, werden geliket. Dieses positive Feedback führt dazu, dass weitere ähnliche Inhalte gepostet werden und der Eindruck entsteht, ein schlanker Körper und eine ausgesprochen figurbewusste Lebensführung seien Standard. Dies führt dazu, dass die Art der Selbstdarstellung in den sozialen Netzwerken imitiert wird, das Verhalten und die Einstellungen aber auch im Real Life an Bedeutung gewinnen.
Serien wie »Two and a Half Men« oder Zeitschriften wie GQ transportieren ein positives Bild von unverbindlichem Sex für männliche Personen. Es werden positive Effekte wie ein Reputationsgewinn für die männlichen Protagonisten dargestellt, während die weiblichen Charaktere eher einen Reputations- und Kontrollverlust erleiden. Das gleiche Verhalten wird für männliche Personen als moralisch unbedenklich, für weibliche Personen aber als sozial unangemessen dargestellt. Unterschiedliche Einstellungen zu unverbindlichem Sex zeigten sich bei männlichen im Vergleich zu weiblichen Studienteilnehmenden in Zusammenhang mit dem Konsum entsprechender Medieninhalte.
Stop and Think
Überlegen Sie, welche Auswirkungen es hat, wenn Fernsehserien, auch Animationsserien für Kinder, diversere Casts enthalten und ein modernes Geschlechterverständnis in ihren Plots umsetzen (vgl. Thiele 2021
Das Model of Intuitive Morality and Exemplars (MIME) postuliert, dass moralische Dispositionen (s.o.) nicht nur die Bewertung von Charakteren in den Medien beeinflussen, sondern dass das moralische oder unmoralische Verhalten dieser Charaktere langfristig auch die kognitive Verfügbarkeit moralischer Standards beim Publikum beeinflusst. Das moralische oder unmoralische Verhalten, das Nutzer*innen bei Medienfiguren beobachten, hat somit nicht nur Auswirkungen auf die unmittelbare Interpretation der Figur und der dargestellten Handlung. Tatsächlich kann eine wiederholte Konfrontation mit Medienfiguren, die bestimmte moralische Standards einhalten oder verletzen, auch die eigene moralische Wahrnehmung der realen Umwelt verändern (vgl. Trepte et al. 2021).
Take Home Message
Die Medienwirkung lässt sich empirisch schwer erfassen, weil es zu Veränderungen, aber auch zu Verstärkungen von vorher bestehenden Einstellungen und Erleben kommen kann. Durch Priming und moralische Vorbilder kann es zur Beeinflussung der Einschätzung von medialen und realen Personen(-gruppen) kommen.
Take Home Message
- Medienrezeption im engeren Sinne ist die Phase der aktiven Mediennutzung. Medienrezeption im weiteren Sinne umfasst auch die Phasen vor und nach der Mediennutzung.
- In der präkommunikativen Phase wird eine Medienauswahl getroffen, in der kommunikativen Phase das Medium genutzt und in der postkommunikativen Phase verbleiben kurz- und längerfristige Wirkungen nach der Mediennutzung.
- Die Medienauswahl wird durch zahlreiche Bedarfe und Eigenschaften der*des Nutzenden beeinflusst.
- Das Erleben während der Mediennutzung zeichnet sich durch kognitive, affektive und konative Aspekte aus.
- Medien können kurz- und langfristige Wirkungen auf die Meinungsbildung der Nutzer*innen haben.