2.2 Menschsein in einer Welt der digitalen Technologien

Betrachten wir die Veränderungen durch die Digitalisierung nun konkreter aus der Perspektive des*r Einzelnen. Mit welchen Themen sieht er*sie sich konfrontiert, vor welchen Herausforderungen steht er*sie und was hat sich im Vergleich zu früher verändert? Auf der Ebene des Individuums ist ein zentraler Aspekt die Identitätsbildung, die durch digitale Medien beeinflusst wird. Das Internet und die damit einhergehende Globalisierung ermöglichen es, auf unterschiedlichste Lebensentwürfe zuzugreifen, sich darüber auszutauschen und sich so immer wieder neu entscheiden zu können und zu müssen, wie man sein Leben und seine Identität gestalten möchte (vgl. Eickelpasch/Rademacher 2004; siehe Einheit Medien.Identität). Darüber hinaus bieten Social Media- und Videoplattformen die Möglichkeit der Selbstdarstellung und damit das Potenzial zur Darstellung der eigenen Identität (vgl. Kneidinger-Müller 2022). Wie unterschiedlich die eigene Darstellung auf den verschiedenen Plattformen aussehen kann, hat die amerikanische Sängerin Dolly Parton im Jahr 2020 gezeigt und unzählige Menschen zur #DollyPartonChallenge inspiriert. Auf einer Collage aus vier Bildern zeigt sie sich seriös im Kostüm für die Jobbörse LinkedIn, festlich im Weihnachtspullover für Facebook, im Countryoutfit für Instagram und aufreizend im Bunnykostüm für die Datingplattform Tinder. Die Collage untertitelte sie mit dem Satz »Get you a woman who can do it all«, also »Such dir eine Frau, die alles kann«. Neben der offensichtlichen Kritik an bestehenden Frauenbildern in der Gesellschaft kritisierte sie damit die Tatsache, dass auf jeder Plattform eine andere Persönlichkeit gefordert wird und man dieser Forderung unter Aufgabe der eigenen Identität nachkommen muss, wenn man den dort geschaffenen gesellschaftlichen Normen folgen will. Zahlreiche Prominente haben daraufhin eine Collage (vgl. Winkler 2020) erstellt. In Anlehnung an die in der vorherigen Einheit erläuterte und die ursprünglich von Stalder (2016) beschriebene ›Kultur der Digitalität‹ (siehe Einheit Medien.Begriffe) gehört zur Identitätsdarstellung auch die Bezugnahme (Referenz) auf andere Inhalte innerhalb der eigenen Gemeinschaft, um den geteilten Inhalten eine Bedeutung zu geben. Auch hier spielen Algorithmen (zum Begriff ›Algorithmen‹ siehe auch Einheit Medien.Daten) eine wichtige Rolle, da sie beeinflussen, welche Inhalte wahrgenommen werden und damit eine Vorbildfunktion und einen Vergleichswert aufweisen. Digitale Medien besitzen also einen großen Einfluss auf die individuelle Persönlichkeit und darauf, wie man sich selbst sieht und darstellt und ob bzw. wie man von anderen wahrgenommen wird. Im Sinne einer reflexiven Medienbildung muss dies immer wieder kritisch betrachtet werden. In der Einheit Medien.Identität werden wir das Phänomen der veränderten Identitätsbildung und die damit verbundenen Chancen und Herausforderungen näher beleuchten.

Stop and Think

Welche Bedeutung hat die Darstellung der eigenen Person in den sozialen Medien für Sie persönlich? Wie unterscheidet sich die Darstellung auf verschiedenen Plattformen und wie beeinflusst Sie der Vergleich mit anderen Personen?

Aufgabe

Bearbeiten Sie die folgende Aufgabe: Dolly Parton Challenge Collage

Die Bedeutung für das Alltagsleben zeigt sich bspw., wenn Döbeli Honegger (2017) die Automatisierung – also die Übernahme verschiedenster Aufgaben durch digitale Technologien – als einen relevanten Auslöser des digitalen Wandels identifiziert und die Digitalisierung als Grundvoraussetzung dafür benennt.

Digitale Technologien, die im Haushalt unterstützen (z.B. der Staubsauger- oder Mähroboter), den Alltag organisieren (z.B. der Kühlschrank, der über Sensoren erkennt, wenn Lebensmittel zur Neige gehen und diese nachbestellt) oder den Einkauf erleichtern (vom Self-Checkout bis zum kassenlosen Supermarkt), verändern das tägliche Leben. Roboter und KI-Systeme (zum Begriff ›KI‹ siehe Einheit Medien.Daten), die in der Produktion oder in der Chirurgie eingesetzt werden, verändern das Alltags- und Berufsleben. Dabei kann die Automatisierung einerseits als Gewinn, andererseits aber auch als Bedrohung des Arbeitsplatzes oder des menschlichen Miteinanders wahrgenommen werden.

Literatur- und Web-Tipp

Zu den möglichen Auswirkungen von KI finden Sie in einer Folge des Podcasts Der KI-Podcast weitere Hinweise: https://www.ardaudiothek.de/episode/der-ki-podcast/werden-wir-alle-arbeitslos/ard/94637888/

Stop and Think

Reflektieren Sie die Automatisierung vor dem Hintergrund Ihres eigenen Lebens. An welchen Stellen erleben Sie die Automatisierung als Erleichterung und an welchen Stellen ergeben sich Sorgen oder Fragen? Haben Sie sich schon einmal unwohl gefühlt, weil in der Kultur der Digitalität keine Menschen mehr ansprechbar waren? Wenn ja, wann? (Denken Sie z.B. an Situationen wie Self Luggage Drop am Flughafen, Online-Banking etc.)

Auch die Vernetzung und die damit verbundene Möglichkeit, über das Internet jederzeit auf beliebige Informationen zuzugreifen und diese austauschen und diskutieren zu können, sind ein positiver Aspekt des Wandels. Gleichzeitig erlebt unsere Gesellschaft als Folge eine Informationsflut, bei der man oft nicht mehr zwischen Realität und Täuschung unterscheiden kann (vgl. Döbeli Honegger 2017). In sogenannten Filterblasen (vgl. Pariser 2012) erreichen die einzelne Person mit Hilfe von Algorithmen vorgefilterte Informationen, und eine objektive Recherche ist an vielen Stellen nur noch eingeschränkt möglich. Die persönliche Meinung wird durch diese Filterblasen (zum Begriff ›Filterblasen‹ siehe Einheit Medien.Daten und Einheit Medien.Identität) immer weiter bestärkt, sodass eine Objektivierung der eigenen Perspektive nur mit großem Mehraufwand möglich ist (siehe hierzu auch die Einheit Medien.Daten). Zudem bietet das Internet Raum für Kriminalität, Rassismus und die Unterdrückung von Minderheiten.

Durch das Internet rückt die Menschheit über Ländergrenzen hinweg immer näher zusammen und die Globalisierung nimmt zu. Das hat bspw. zur Folge, dass sich die Preisgestaltung auf Grund der unmittelbaren Vergleichbarkeit ändert und Arbeitskräfte aus weit entfernten Ländern eingestellt werden, weil dies einen wirtschaftlichen Vorteil bietet. All dies erfordert zwangsläufig mehr Toleranz gegenüber »kulturelle[n] Unterschiede[n], Praktiken und Weltanschauungen sowie die Fähigkeit, diese Vielfalt für kreativere Antworten für die Herausforderungen unserer Welt zu finden« (Fadel et al. 2017: 101).

Eine weitere Herausforderung, die mit dem digitalen Wandel einhergeht, ist der Verlust der Privatsphäre (vgl. Döbeli Honegger 2017). Durch Social Media wird Privates und Persönliches öffentlich gemacht und der Schutz der eigenen Daten erscheint angesichts von Big Data und Data Tracking (siehe dazu Einheit Medien.Daten und Einheit Medien.Identität) herausfordernd (vgl. Reckwitz 2017; Nassehi 2019). Steffen Mau spricht in seinem Buch »Das metrische Wir« (2017) bereits von »Reservate[n] der Datenfreiheit«, die nur schwer zu entdecken sind. Ob beim Online-Einkauf, der Internetrecherche oder den akzeptierten Cookie-Einstellungen (weitere Informationen zu Cookie-Einstellungen siehe Einheit Medien.Daten) beim Aufruf einer Website: Man hinterlässt im Dauertakt persönliche Daten, ohne dass man sich darüber im Klaren ist, was mit diesen weiter geschieht oder wer sie wie nutzt.

Digitale Prozesse, die die Sammlung und Auswertung von Daten beschleunigen, machen diese bspw. für Wirtschaftsunternehmen zu einer wichtigen Ressource, »da die entsprechenden Informationen verwendet werden können, um Kunden zu gewinnen, den kommerziellen Nutzen von Personen zu ermitteln oder sie in ihren Entscheidungen zu dirigieren« (Mau 2017: 40).

So können Unternehmen mit Hilfe von Data Analytics und Data Tracking (siehe Einheit Medien.Daten) individualisierte und auf einzelne Konsument*innen zugeschnittene Werbung anbieten, politische Parteien ein Wähler*innenprofil erstellen sowie entsprechend bedienen und in der Medizin spezifische Besonderheiten von Patient*innen berücksichtigt werden. Ziel ist es also, Vorhersagen in Bezug auf das Individuum treffen zu können (vgl. Reckwitz 2017: 255). So nimmt einerseits die Bedeutung von Daten in Form von Zahlen immer weiter zu (Mau 2017), andererseits wird immer mehr im Leben automatisiert messbar und damit durch Daten und Zahlen darstellbar (zum Begriff der ›Omnimetrie‹, also der automatisierten Messbarkeit in der Digitalisierung, vgl. Döbeli Honegger (2017).

Literatur- und Web-Tipp

Wenn Sie sich tiefergehend mit den Auswirkungen der Quantifizierung unserer Welt und deren Auswirkungen auseinandersetzen wollen, empfehlen wir folgendes Buch: Mau, Steffen (2017). Das metrische Wir. Über die Quantifizierung des Sozialen. Berlin: Suhrkamp.

Die Prozesse der Automatisierung, Vernetzung und Globalisierung und der Verlust der Privatsphäre wirken sich somit bereits heute auf das tägliche Leben und Handeln aus und bestimmen in großem Maße, wie die Gesellschaft in Zukunft leben wird. Jedoch ist die Zukunft nicht durch die digitalen Technologien vorherbestimmt, sondern kann aktiv mitgestaltet werden (vgl. Kerres 2023). Um mit digitalen Medien selbstbestimmt sowie verantwortungsbewusst umgehen zu können und sich potenzieller Auswirkungen und Gefahren bewusst zu sein, muss man diese Prozesse und ihre Auswirkungen reflektieren lernen. Hierbei kann Ihnen bspw. die Einheit Medien.Daten helfen, das sich tiefergehend mit zentralen Themen wie Big Data, Data Tracking, Algorithmen und der damit verbundenen Datenkompetenz (Data Literacy) beschäftigt und Sie in der reflektierten Betrachtung dieser Themen unterstützt.

Stop and Think

Reflektieren Sie die von Ihnen täglich produzierten Daten. Tragen Sie bspw. eine Smartwatch oder nutzen Sie Smart-Home-Technologie? Besitzen Sie Accounts in den Sozialen Medien und welche Cookies lassen Sie bei Aufrufen einer Website zu? Vermutlich fallen Ihnen noch weitere Fälle ein, bei denen Daten von Ihnen gesammelt werden.

Take Home Messages
  • In der heutigen Welt braucht es ein Verständnis der Wechselwirkungen zwischen Mensch, Gesellschaft und digitalen Technologien.
  • Die Gestaltung von Identität hat sich auf Grund der digitalen Medien und der damit einhergehenden Globalisierung verändert (siehe auch Einheit Medien.Identität).
  • Digitalisierung ist die Voraussetzung für den digitalen Wandel, welcher Prozesse der verstärkten Automatisierung, Vernetzung und Globalisierung mit sich bringt.
  • Damit gehen Veränderungen einher, die sowohl das Individuum als auch die Gesellschaft betreffen (z.B. die Informationsflut und entstehende Filterblasen, der Verlust der Privatsphäre und die Veränderung der Bedeutung von Daten).