Dramaturgie der Geschlechter. Heldinnen der Komödien und Trauerspiele 1600-1800
Diagrama de temas
- 1. Überblick
- 2. Theoretische Grundlagen
- 3. Daniel Caspar von Lohenstein: „Sophonisbe“
- 4. Andreas Gryphius: „Catharina von Georgien“
- 5. Dramenpoetologie
- 6. Luise Adelgunde Victorie Gottsched: „Die Pietisterey im Fischbein-Rocke“
- 7. Johann Elias Schlegel: „Die stumme Schönheit“
- 8. Christian Fürchtegott Gellert: „Die zärtlichen Schwestern“
- 9. Gotthold Ephraim Lessing: „Miß Sara Sampson“
- 10. Gotthold Ephraim Lessing: „Minna von Barnhelm“
- 11. Johann Wolfgang Goethe: „Stella“ (Fassung 1775)
- 12. Heinrich Leopold Wagner: „Die Kindermörderin“
- 13. Johann Wolfgang Goethe: „Iphigenie auf Tauris“ (Fassung 1787)
- Literaturverzeichnis
- Impressum
- 13.1. Einstieg
- 13.2. Vor der Lektüre
- 13.3. Exposition
- 13.4. Handlung
- 13.5. Tantalidenfluch
- 13.6. Geschlecht und Affekt
- 13.7. Humanitätsideal
- 13.8. Drama der Anerkennung
- 13.9. Übersicht Aufgaben
-
-
Klicken Sie hier, um sich den Text vorlesen zu lassen.
-
Goethes 1787 fertiggestellte dramatische Bearbeitung des antiken Stoffes um die älteste Tochter des trojanischen Helden Agamemnon und dessen Frau Klytaimnestra gilt noch heute oftmals als Paradebeispiel seines Weimarer Kulturprogramms, das Humanität als zentrales gesellschaftliches Ideal propagierte. Dieser Haltung folgend wird im Stück das durch das Schicksal getrennte Geschwisterpaar Iphigenie und Orest wieder zusammengeführt, eine kriegerische Auseinandersetzung zwischen Griechen und Taurern verhindert und nicht zuletzt sogar der Familienfluch des Tantalidengeschlechts, dem Iphigenie und Orest in jüngster Generation angehören, gebrochen.
Damit wird gleichsam eine heroische Tradition überwunden, wie sie bereits vor Goethe, etwa in Johann Elias Schlegels Drama „Die Trojanerinnen“ (1737), kritisiert wurde (vgl. Brandmeyer 1987, S. 31). Goethes Stück ließe sich in einem aufklärerischen Sinne so interpretieren, dass ein männlicher Mythos von Herrschaft, Gewalt und Heroismus über die Figur der Iphigenie durch eine Art reine, humane und erlösende Kraft des Weiblichen abgelöst wird. Dieses das Stück durchziehende Humanitätsideal, wie es etwa auch in Johann Gottfried Herders „Briefen zur Beförderung der Humanität“ (1793-1797) als fortlaufender Entwicklungsprozess angestrebt wird, ist auf inhaltlicher Ebene symptomatisch für die Klassizität von Goethes Drama, die sich noch in weiteren Aspekten zeigt. Rückgriffe auf die antike Dichtkunst bestehen inhaltlich darüber hinaus etwa in der Anagnorisis (also dem gegenseitigen Wiedererkennen) des Geschwisterpaares, Orests Gang in die Unterwelt sowie konzeptionell in der Figurenzeichnung von Iphigenie als ‚schöne Seele‘ (im Griechischen ‚Kalokagathia‘). Über derartig konzipierte Figuren wird eine Harmonie zwischen Pflicht und Neigung in vollkommener Weise symbolisiert, wie es etwa in Schillers philosophischer Schrift „Über Anmut und Würde“ (1793) dargelegt wird. Auch die formale Ebene des Dramas bildet seine Klassizität ab. Goethe verleiht sie der ursprünglichen Prosafassung von 1779 erst durch eine grundlegende Überarbeitung während seines Italienaufenthalts (1786-1788): Fünfhebige Jamben als Blankverse, der hohe Sprachstil, die geschlossene Form des Stücks, die symmetrisch aufgebaute Personenkonstellation, die höfisch-aristokratische Sphäre sowie zahlreiche sprachlich-rhetorische Kunstfertigkeiten spiegeln die inhaltlichen Harmonisierungsbestrebungen auch formal wider.
Goethes „Iphigenie“, von ihm selbst in einem Brief an Schiller als „ganz verteufelt human“ (19. Januar 1802) bezeichnet, kann zeitgenössisch – insbesondere in der früheren Prosafassung, die zahlreiche Anspielungen auf den Weimarer Hof enthielt – eher als Liebhaberstück im Schillerschen Sinne einer ästhetischen Erziehung des Menschen („Über die ästhetische Erziehung des Menschen“, 1795) verstanden werden: Vor diesem Kontext hat Kunst die Funktion, die Menschen zu veredeln. Die größtenteils dialogische und anspruchsvolle Konzeption hat zur ausbleibenden zeitgenössischen Breitenwirkung sicherlich ebenso beigetragen wie die dem Stück oftmals vorgeworfene fehlende Leidenschaftslosigkeit, die Schiller jedoch in einer Besprechung als „die imponierende große Ruhe, die jede Antike so unerreichbar macht, die Würde, den schönen Ernst“ (Schiller 1991, S. 212) bezeichnete.
Im 20. Jahrhundert machte hingegen Theodor W. Adorno das Stück für eine Zivilisationskritik fruchtbar: Die „Iphigenie“ sei, wie das gesamte Werk Goethes, von einer „Gewalt des Mythischen“ durchzogen, die „blinde, naturwüchsige Verhältnisse“ (er bezieht sich hier konkret auf den Monolog des wahnsinnigen Orest) zum Ausdruck bringt, wie sie „auch in der Gesellschaft des aufgeklärten Zeitalters“ (Adorno 1974, S. 7f.), also der zeitgenössischen bürgerlichen Gesellschaft, noch überdauerten.
Stephanie Wollmann -
Textgrundlage:
Johann Wolfgang Goethe: Iphigenie auf Tauris. Studienausgabe, hg. v. Rüdiger Nutt-Koforth, Stuttgart: Reclam 2014.
-