Religiöse Literatur des Mittelalters. Heiligkeit – Körper – Imagination
Tematyka
- 5.1. Einstieg
- 5.2. Vor der Lektüre
- 5.3. Die „Vorauer Novelle“
- 5.4. Der Tod und das Ich: Sterbelieder
- 5.5. Streitgespräch und Bewältigung
- 5.6. „Bilder-Ars-Moriendi“
- 5.7. Reisen ins Jenseits
- 5.8. „Eigengerichtsspiel“
- 5.9. Übersicht Abgaben
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Die ‚Kunst des Sterbens‘ ist in der mittelalterlichen religiösen Kultur eigentlich eine Kunst des Lebens: Denn das gesamte Leben soll den Gläubigen so auf den Tod vorbereiten, dass er in der Sterbestunde, die ein Moment der Bedrängnis und Anfechtung ist, nichts zu befürchten hat.
In mittelalterlichen Texten ist das Thema ‚Tod und Sterben‘ besonders eng mit den Potentialen literarischer Bildlichkeit verknüpft. Eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Textsorten kreist um Tod und Sterben: Neben Texten, die die Begleitung Sterbender anleiten, gibt es lyrische Texte, die die Begegnung des fiktiven Ich mit dem Tod imaginieren, eine Erzählung von Teufelsbund, Verzweiflung und Reue, ein Streitgespräch, in dem ein Hinterbliebener mit dem personifizierten Tod diskutiert, erörternde Texte (auch in Kombination mit Bildprogrammen), Erzählungen von Jenseitsreisen in Gestalt von Visionsberichten, die Einblicke in das postmortale Geschehen geben, und Spieltexte, die die Anfechtungen und Tröstungen im Moment des Todes sowie die Hilfsbedürftigkeit der Seelen im Fegefeuer vor Augen stellen.
Der Tod stellt in religiösem Verständnis die Auflösung der Verbindung von Leib und Seele und den Übergang der Seele vom Diesseits ins Jenseits dar. Dabei sind beide Räume auf vielfältige Weise miteinander verbunden. Dies zeigt sich etwa bei der Vorstellung vom Fegefeuer, das sich im Laufe des Hochmittelalters als dritter Ort neben Himmel und Hölle etabliert – als Läuterungs- und Reinigungsort (‚purgatorium‘), an dem die Seelen, die lässliche Sünden auf sich geladen haben, ihre Strafen abbüßen müssen, um danach in den Himmel aufgenommen zu werden: Die Lebenden können den Seelen im Fegefeuer durch Fürbitte, Almosen, Askese und Messstiftungen das jenseitige Leiden verkürzen.
Die literarischen Texte halten sich dabei nicht strikt an das kirchliche Dogma. So sind Reinigungs- und Läuterungsräume fester Bestandteil von Jenseitsreiseerzählungen seit der Spätantike, obwohl die Existenz von Läuterungsstrafen erst auf dem Konzil von Lyon (1274) bestätigt wurde.
Im Spätmittelalter erlangte die Kunst des Sterbens eine gesteigerte Bedeutung – nicht zuletzt im Zuge einer gesteigerten Gegenwart des Todes etwa im Gefolge der Pest ab dem 14. Jahrhundert. Die ‚ars moriendi‘ (so der lateinische Ausdruck für die ‚Kunst des Sterbens‘) steht zugleich in Zusammenhang mit einer Verschiebung der Aufmerksamkeit zur Passion Christi, mit einer Akzentverlagerung von der göttlichen zur menschlichen Natur Christi und damit zu seinem körperlichen Leiden (s. 3.1.: Passion und Auferstehung).
Während im Früh- und Hochmittelalter die Reflexion über Tod und Sterben klösterlichen, klerikalen und adligen Kreisen vorbehalten blieb, prägte sie die spätmittelalterliche Frömmigkeit von (adeligen wie nicht-adeligen) Laien in erheblichem Maße. Hierbei hatten zum einen die neuen Bettelorden, die maßgeblich im 13. Jahrhundert entstanden (wie Dominikaner, Franziskaner und Augustiner-Eremiten) eine große Bedeutung für die spätmittelalterliche Frömmigkeit. Zum anderen spielte die ‚Devotio moderna‘ (die „neue Frömmigkeit“) eine besondere Rolle, eine geistliche Erneuerungsbewegung, die Ende des 14. Jahrhunderts in den Niederlanden entstand und sich über ganz Europa ausbreitete. Es handelte sich um eine tendenziell institutionenkritische Bewegung, die in besonderer Weise den Einzelmenschen ins Zentrum stellte.
Die Reformation führte theologische Entwicklungen des Spätmittelalters weiter – etwa die Vorstellung einer ‚Verinnerlichung‘ der Hölle – und band diese in einen stringenten theologischen Zusammenhang ein. Luther wies zwar mit seiner Rechtfertigungslehre, derzufolge der Mensch nur durch die Gnade Gottes gerechtfertigt sei, Frömmigkeitspraktiken zurück, die den menschlichen Werken Heilsrelevanz zusprechen. Die ‚ars moriendi‘ (die ‚Kunst des Sterbens‘) war aber auch für Luther wichtig, der 1519 einen ‚Sermon von der Bereitung zum Sterben‘ in den Druck brachte.
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Textgrundlagen
Anonymes Lied in einem Ton Regenbogens: Der Tot kwam zuo mir heim, in: Minnesinger. Deutsche Liederdichter des zwölften, dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts, Bd. 3/1, aus den Jenaer, Heidelberger und Weingartner Sammlungen und den übrigen Handschriften und früheren Drucken erg. und hergestellt v. Friedrich Heinrich von der Hagen, Leipzig: Barth 1838, Neudruck Aalen: Otto Zeller Verlagsbuchhandlung 1963, S. 345.
‚Ars moriendi‘, in: Ars moriendi. Die Kunst, gut zu leben und gut zu sterben. Texte von Cicero bis Luther, hg., eingel. und übers. v. Jaques Laager, mit 11 Kupferstichen von Meister E.S., Zürich: Manesse 1996, S. 177-229.
Eine Bilder-Ars-moriendi (ca. 1470), in: Kümper, Hiram (Hg.): Tod und Sterben. Lateinische und deutsche Sterbeliteratur des Spätmittelalters, bearb. v. Hiram Kümper, mit einem Beitrag zur Bilder-Ars-Moriendi v. Andrea Berlin, Duisburg u.a.: WiKu 2007.
Johannes von Tepl: Der Ackermann. Frühneuhochdeutsch/Neuhochdeutsch, hg., übers. und komm. v. Christian Kiening, durchges. und verbesserte Ausg. 2002, Stuttgart: Reclam 2012.
Marcus von Regensburg: Visio Tnugdali/Vision des Tnugdalus, eingel., übers. und komm. v. Hans-Christian Lehner u. Maximilian Nix, Freiburg u.a.: Herder 2018.
Das Münchner Spiel von 1510, in: Drei Schauspiele vom sterbenden Menschen, hg. v. Johannes Bolte, Leipzig: Hiersemann 1927, S. 1-62.
Oswald von Wolkenstein: Ich spür ain tier, in: Schumacher, Meinolf: Ein Kranz für den Tanz und ein Strich durch die Rechnung, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 123 (2001), H.2, S. 253-273, hier S. 255-257. https://doi.org/10.1515/bgsl.2001.2001.123.253.
Die Vorauer Novelle. Mittelhochdeutscher Text und Übertr. ins Neuhochdeutsche v. Andrea Hofmeister, Graz: Universitätsverein Steirische Literaturpfade des Mittelalters 2012; URL: https://static.uni-graz.at/fileadmin/Literaturpfade/Vorau/Textheft_Vorauer_Novelle.pdf [11.09.2023].
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