Religiöse Literatur des Mittelalters. Heiligkeit – Körper – Imagination
Тематический план
- 4.1. Einstieg
- 4.2. Vor der Lektüre
- 4.3. Erste Gruppe: Märtyrerlegenden
- 4.4. Zweite Gruppe: Selbstverleugnung als Askese
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Eine besonders wichtige Gattung mittelalterlichen Erzählens ist die Legende. In aller Regel handelt es sich um die Heiligenlegenden, also um Erzählungen vom Leben, Sterben und den von den Heiligen gewirkten Wundern. Es gibt aber auch einzelne Legenden, die sich nicht mit Heiligen, sondern etwa mit dem Kreuzesholz befassen. Zentral für diese Gattung ist, dass die Texte im Rahmen der Frömmigkeit relevant waren; sie wurden also rezipiert, weil die Rezipient:innen an das geglaubt haben, wovon berichtet wird. Damit sind die Texte weder als dezidiert ‚faktual‘ noch als ‚fiktional‘ zu begreifen, sondern – so ein Vorschlag von Elke Koch – als ‚fideal‘ (von lateinisch ‚fides‘, „Glaube“): Legenden sind Texte, die geglaubt werden wollten.
Im Zentrum der Legende steht also der bzw. die Heilige oder auch eine Gruppe von Heiligen (wie zum Beispiel die 11 Gefährtinnen und 11.000 Jungfrauen, die die hl. Ursula begleiten). Was Heiligkeit ausmacht, war seitens der Institution der Kirche lange Zeit nicht genau definiert und hatte vor allem damit zu tun, dass die Gläubigen bestimmte Personen als ‚heilig‘ verehrten. Erst im Laufe der Zeit etablierte sich ein förmliches, an einem Gerichtsverfahren ausgerichtetes Vorgehen der Kirche, das in modifizierter Form auch heute noch praktiziert wird. So vielfältig die Möglichkeiten personaler Heiligkeit sind, so unterschiedlich sind auch die Arten und Weisen, von ihr zu erzählen.
Edith Feistner hat Märtyrer- und Bekennerlegenden unterschieden und diese Unterscheidung mit zwei unterschiedlichen Arten des Erzählens in Verbindung gebracht. Auch wenn viel für diese Typologie spricht, geht sie doch an der Vielfalt von Heiligenlegenden vorbei. Zwar war das Martyrium lange Zeit zentral für die Vorstellung von Heiligkeit, da es in besonderer Weise das Gebot der Christusnachfolge erfüllte. Doch konnte das Martyrium auch relativiert werden oder sogar ganz ausfallen – so im Fall des hl. Georg, dessen Heiligkeit auf sein Martyrium im Rahmen der spätantiken Christenverfolgungen zurückgeht, im Hochmittelalter jedoch durch die einflussreiche Geschichte des Drachentöters ergänzt und zum Teil verdrängt wurde. Grundsätzlich gibt es viele unterschiedliche Begründungen und Modelle personaler Heiligkeit – Jungfräulichkeit, Askese oder auch die besondere Amtsführung eines Bischofs u.a.m. –, die alle auf verschiedene Weise das Kriterium der Nachfolge Christi (‚imitatio Christi‘) erfüllen. Nachfolge ist dabei nicht als ‚Nachahmung‘ Christi zu verstehen, sondern als unmittelbare Teilhabe an einem Erlösungsgeschehen, als Partizipation.
Für die Gläubigen waren die Heiligen vor allem als Fürsprecher:innen bei Gott von großer Bedeutung. Auch die Fürsprache (die ‚intercessio‘), um deretwillen die Heiligen angerufen werden, spielt für legendarisches Erzählen also eine wichtige Rolle. Aus dem Leben und Sterben der Heiligen konnte ferner eine besondere ‚Zuständigkeit‘ resultieren, denn Heilige sind auch Helfer:innen, die von den Gläubigen in besonderen Notsituationen angerufen werden können (‚adiutores‘).
Die Heiligen sind damit ‚in der Welt‘, zugleich aber auch ‚aus der Welt‘. Dies gilt während ihres Lebens, in dem sie in der Welt Wunder wirken, die diese Welt übersteigen (d.h. transzendieren), jedoch auch nach ihrem Tod: Ihre besondere Kraft (die ‚virtus‘) ist nach ihrem Tod auch in ihren körperlichen Überresten (den Reliquien) wirksam. So konnte Wolfram von Eschenbach in seinem „Willehalm“ vom hl. Vivianz sagen, dass das Salzwasser des Meeres süß geworden wäre, hätte man nur einen Zeh des Vivianz in das Meer geworfen – die ‚Süße‘ steht hier für eine sinnlich erfahrbare Dimension von Heiligkeit. Damit ist für Heiligenlegenden der Gegensatz zwischen der Innerweltlichkeit (der ‚Immanenz‘) und dem, was sie überschreitet (der ‚Transzendenz‘), wichtig. Das Gegensatzpaar ‚Immanenz‘ vs. ‚Transzendenz‘ stammt ursprünglich vor allem aus der Religionssoziologie (vom Gegensatzpaar ‚heilig‘ vs. ‚profan‘ ist es deutlich zu unterscheiden). Die Vorstellung einer harten Opposition zwischen ‚Immanenz‘ und ‚Transzendenz‘ ist für die Erforschung der Heiligenlegenden immer wieder in Anschlag gebracht worden, steht aber in einer (durchaus produktiven) Spannung zu Glaubensvorstellungen, in denen die geschaffene Welt (die Schöpfung) und das Göttliche keine strikte Opposition bilden, sondern unauflöslich ineinander verschränkt sind.
Für die Überlieferung von Legenden spielen Legendensammlungen eine große Rolle, die jedoch die Vielfalt legendarischen Erzählens bereits reduzieren, da sie dieses in mehr oder weniger kohärente Muster einfügen. Die kurz nach 1250 entstandene „Legenda Aurea“ des Jacobus von Voragine hat bereits im Mittelalter eine große Verbreitung erfahren und war sehr wirkmächtig. Die hier nach dem liturgischen Kalender zusammengestellten Legenden bilden jedoch nicht ‚das‘ legendarische Erzählen im Mittelalter in seiner Vielfalt ab.
Legenden stellen somit einen sehr heterogenen Traditionsbestand dar. Zu seiner Untersuchung müssen Kriterien gewählt werden, die einerseits historisch zurückgebunden werden können, andererseits systematisch aufschlussreich sind: Dies gilt beispielsweise für die Frage von Körper und Geschlecht, die in der kulturwissenschaftlich orientierten Forschung viel Aufmerksamkeit erfahren hat und die auch in den Texten selbst auf vielfältige Weise verhandelt wird. Der Körper der Heiligen spielt in den Legenden eine zentrale Rolle, da sich die göttlichen Wunder sehr häufig an ihm zeigen. Und auch die Geschlechtsidentität des oder der Heiligen, die stets kulturell codiert ist, ist für legendarisches Erzählen von besonderer Wichtigkeit.
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Textgrundlagen
Der Heiligen Leben. Bd. 1: Der Sommerteil, hg. v. Margit Brand, Kristina Freienhagen-Baumgardt, Ruth Meyer und Werner Williams-Krapp, Tübingen: Max Niemeyer 1999. https://doi.org/10.1515/9783110946741.
Der Heiligen Leben. Bd. 2: Der Winterteil, hg. v. Margit Brand, Bettina Jung und Werner Williams-Krapp, Tübingen: Max Niemeyer 2004. https://doi.org/10.1515/9783110911756.
Die Elsässische ‚Legenda Aurea‘, Bd. 1: Das Normalkorpus, hg. v. Ulla Williams und Werner Williams-Krapp, Tübingen: Max Niemeyer 1980. https://doi.org/10.1515/9783110916485.
Die Elsässische ‚Legenda Aurea‘, Bd. 2: Das Sondergut, hg. v. Konrad Kunze, Tübingen: Max Niemeyer 1983. https://doi.org/10.1515/9783110932645.
Die Elsässische ‚Legenda Aurea‘, Bd. 3: Die lexikalische Überlieferungsvarianz. Register. Indices, hg. v. Ulla Williams, Tübingen: Max Niemeyer 1990. https://doi.org/10.1515/9783110925005.
Jacobus de Voragine: Legenda Aurea. Goldene Legende. Einleitung, Edition, Übersetzung und Kommentar v. Bruno W. Häuptli, 3 Bde. Durchgesehene Ausgabe der Originalausgabe von 2014, Freiburg u.a.: Herder 2022.
Passional, Buch III, hg. v. Friedrich Karl Köpke, Quedlinburg/Leipzig: Basse 1852; URL: https://archive.org/details/daspassionalein00kpgoog/page/n7/mode/2up [19.09.2023].
Das Väterbuch, aus der Leipziger, Hildesheimer und Straßburger Handschrift, hg. v. Karl Reissenberger, Berlin: Weidmann 1914; URL: https://digital.slub-dresden.de/werkansicht/dlf/362339/2 [20.09.2023].
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