4. Diagnostik im inklusivem Kontext
Im Anschluss an die zweite Übung erfahren Sie hier mehr über die Intention der Übung.
Der Text in diesem Moodle-Buch stammt von Dietlind Gloystein und wurde nur im Rahmen dieses Kurses veröffentlicht.
Diagnostik im inklusiven Kontext: Wofür steht diese Übung? – Anbindung an den wissenschaftlichen Diskurs
Insgesamt hat in der Schulpädagogik eine deutliche Orientierung auf die Zuwendung zu jeder(m) einzelnen Schüler:in stattgefunden. Lehrkräfte erkennen vermehrt an, dass Prozesse der Individualisierung für die Schaffung differenzierter und angemessener Lerngelegenheiten für die Bereitstellung eines förderlichen Unterrichtsklimas notwendig sind. Gleichzeitig konstatieren sie, dass sie mit den unterschiedlichen Voraussetzungen und Herausforderungen, die Schüler:innen mit sich bringen, oft nicht umgehen können. Sie machen in Befragungen deutlich, dass es ihnen an professionellem Diagnose-, Erklärungs- und Handlungswissen, Methoden und „Werkzeugen“ mangele, wenn es darum geht, verschiedene Ausgangslagen zu bestimmen und diese fortlaufend in Einklang mit Individualisierungs- und Differenzierungsstrategien zu bringen (vgl. Barth und Gloystein 2019, S. 95). Des Weiteren ergeben Befragungen von Lehrkräften eine „Gemengelage von unterschiedlichen Auffassungen darüber, was Diagnostik ist, darf und soll“ (Jansen und Meyer 2016, S. 280).
Mit dem Blick auf das inklusive Schulsystem und seinen Veränderungsanspruch hat sich diese Unsicherheit noch verstärkt und beschäftigt sowohl Studierende aller Lehrämter als auch Lehrende und Forscher:innen. Der Ruf nach diagnostisch kompetent ausgebildeten Lehrkräften gipfelt aktuell in einer Fragestellung, welche die Diagnosekompetenz von Lehrkräften berührt und der Ziel-, Inhalts- und Umsetzungsfrage einer an Inklusion orientierten Diagnostik nachgeht (vgl. Barth und Gloystein 2019, S. 95).
Diagnostische Kompetenz beschreibt nach Brühwiler (2014, S. 76) „die Fähigkeit, die Schülerinnen und Schüler bezogen auf ihre Lernvoraussetzungen und ihre Lernergebnisse genau einschätzen zu können“. Für die Forschergruppe um Beck et al. (2018) und Brühwiler (2014) gehören Sachkompetenz, didaktische Kompetenz, diagnostische Kompetenz und Klassenführungskompetenz, zu den für erfolgreiches Unterrichten bedeutsamen Fähigkeiten. Erst das situations- und kontextsensitive Zusammenspiel dieser vier Kompetenzen, verstanden als adaptive Lehrkompetenz, ermöglicht die „Anpassungsleistung an variable Bedingungen“ (Brühwiler 2014, S. 76) und unterstützt damit die Fähigkeit der Lehrkräfte Unterricht an die Bedürfnisse von Schüler:innen anzupassen (ebd., S. 60).
Diagnostische Kompetenz wird nach Brühwiler (ebd., S. 82) als umfassendes Konzept verstanden und bezieht sich im engeren Sinne auf die Urteilsgenauigkeit und diagnostische Expertise (methodisches, prozedurales und konzeptionelles Wissen) von Lehrkräften. Sie gibt Auskunft über den aktuellen Lernstand von Schüler:innen – wobei Lernziele als Bewertungsmaßstab gelten – und über die Qualität des Lernprozesses insgesamt (Beck 2008, S. 30). Mit dem Ziel, Schüler:innen das Verstehen des Unterrichtsgegenstandes zu ermöglichen, stellen Lehrkräfte sich damit der Aufgabe, kognitive Voraussetzungen von Schüler:innen zu erkennen, um Aufgabenanforderungen genau beurteilen können (Brühwiler 2014, S. 82) (vgl. Barth und Gloystein 2018, S. 112).
Unter dem Vorzeichen von Inklusion steht der renommierte Ansatz hinsichtlich einer Neubewertung und Anpassung jedoch auf dem Prüfstand – insbesondere, was die diagnostische Kompetenz anbelangt (vgl. Barth und Gloystein 2018, 2019). „Das inzwischen verankerte Recht auf Inklusion und Partizipation rückt Diagnostik als elementares (Unterrichts-)Prinzip in ein neues Licht und verlangt einen grundlegend anderen Umgang mit Verschiedenartigkeit und Vielfalt“ (Gloystein und Moser 2019, S. 65).
Für eine erste Annäherung an die Aufgaben, auf die angehende Lehrkräfte innerhalb ihrer Ausbildung vorbereitet werden und die sie später in der Gestaltung inklusiver Bildung an Schulen erfüllen sollen, konnten im Rahmen des FDQI-HU-Projektes mehrere Kernpunkte herausgearbeitet werden - die an dieser Stelle jedoch nur verkürzt dargestellt werden können (vgl. Gloystein und Frohn 2020, S. 65f.) und sich unter Beachtung der durchgeführten Übung auf folgenden Aspekt konzentriert:
Die Veränderungen grundsätzlicher Leitlinien in der Pädagogik haben auch einen Paradigmenwechsel in der Diagnostik bewirkt, der einer intensiven Reflexion darüber bedarf, worin das alte Paradigma bestand, was die neue Sichtweise verkörpert und welche Haltungen und Einstellungen, Fragestellungen, Ziele sowie Methoden sich daraus für die Diagnostik ergeben.
Eine Professionalisierung muss daher zwangsläufig an den Haltungen und Rollenbildern der angehenden Lehrkräfte ansetzen. Reflexive Zugänge finden sich "im Hinterfragen der Ergebnisorientierung, bei vorgefertigten Kriterien und Fragenkatalogen, im Erkennen von Hierarchiestrukturen und Abhängigkeiten als auch in der kritischen Betrachtung des Gesamtgeschehens“ (Römer 2017, S. 229).
Zusammenfassend geht es auch in dieser Selbsterfahrungsübung darum, die eigenen Vorstellungen und Haltungen – als wichtige Variable hinsichtlich der Umsetzung inklusiven Unterrichts – sowohl theoretisch als auch praktisch zu reflektieren. Erst im Transfer der Erkenntnisse kann der Raum für Leitgedanken einer Diagnostik, die den ethischen Grundlagen inklusiven Lehrens und Lernens entspricht, entstehen.