5.2 Identitätsentwicklung durch digitale Medien

Die Postmoderne zeichnet sich dadurch aus, dass althergebrachte Orientierungspunkte (feste Werte, feste lokale Strukturen) wegfallen und die Identitätsbildung vor neue Herausforderungen gestellt wird. Gesellschaftliche Institutionen wie Kirche, Schule und Familie treten bei manchen Personen möglicherweise mehr in den Hintergrund und Medieninhalten wird eine stärkere Bedeutung bei der Herstellung von Identität beigemessen (vgl. Körber/Schaffar 2002). Menschen sind zunehmend in verschiedene Lebenszusammenhänge eingebunden und global vernetzt, wodurch eine an Einheitlichkeit orientierte Identität zugunsten einer facettenreichen, an Kontexte adaptierbaren Identität weicht. Damit hat sich die vorherrschende Vorstellung von Identität als fixe Größe in der Identitätsdebatte der 90er Jahre zu einer Idealvorstellung von Vielfalt, Komplexität und Widersprüchlichkeit sowie fortwährender Weiterentwicklung gewandelt. Die Frage ist, was in der Lage ist, das Vielfältige zu bündeln und Einheitlichkeit und Beständigkeit zu schaffen; was in der Lage ist, ein Ich und ein Wir herzustellen (siehe auch Abb. 5.1). Medien können für diesen Zweck genutzt werden: Sie unterbreiten einerseits Identitätsangebote und können gleichzeitig der Darstellung von Identität dienen (vgl. Schachtner 2001). Sie durchdringen den Alltag und alle Lebensbereiche und beeinflussen damit, wie Menschen sich und ihre Beziehung zu anderen wahrnehmen und ausdrücken (vgl. Körber/Schaffar 2002; vgl. Stricker 2023; siehe Einheit Medien.Gesellschaft). In den Medien können vielfältige Lebensentwürfe, Werte und Handlungsstrategien beobachtet werden, die aus aller Welt stammen können (vgl. Schachtner 2001). Medien ergänzen damit bereits die Sozialisationsräume von Kindern und Jugendlichen und sind als wichtige Instanz nicht mehr wegzudenken (vgl. Körber/Schaffar 2002; vgl. Stricker 2023).

Schachtner (2001) betrachtete Fernsehen als wichtiges Medium, das Ich- und Wir-Angebote aus aller Welt (global) macht. Fernsehformate haben sich seit Beginn der 2000er Jahre deutlich verändert, und es hat bspw. ein Zuwachs an, auch internationalen, »Reality-TV«-Sendungen stattgefunden. Zudem wird das Angebot des linearen Fernsehens durch zahlreiche Video-on-Demand-Inhalte, d.h. Inhalte, die auf Abruf von einem Online-Dienst gestreamt oder heruntergeladen werden können, sowie Videoplattformen (bspw. YouTube) ergänzt. Der größte Unterschied ist jedoch, dass jenseits des linearen und nicht-linearen Fernsehens Privatpersonen Inhalte (auch ›Content‹ genannt) auf Social-Media-Kanälen und Videoplattformen einstellen. Sie werden also selbst zu Produzierenden (siehe Einheit Medien.Gestaltung) und Rezipierenden (siehe Einheit Medien.Rezeption) von privat erstelltem Content. Auch wenn das zum einen die Chance bietet, vielfältige Lebensweisen und Weltanschauungen von überall auf der Welt kennenzulernen, zeichnen sich die Medieninhalte auch durch eine beschönigte und perfektionierte Darstellung aus, die sich auch schädlich auf die Konsumierenden auswirken kann (vgl. Kneidinger-Müller 2022; s.u. soziale Risiken).

Stop and Think

Lassen Sie sich in den Medien von verschiedensten Inhalten überraschen? Oder suchen Sie gezielt nach Inhalten, von denen Sie wissen, dass sie Ihnen zusagen?

Medien können dazu dienen, Identitäten zu spiegeln, zu reflektieren und zu entwickeln: In Medieninhalten kann die eigene Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe gespiegelt werden, wenn sich bewusst für entsprechende Medieninhalte entschieden wird (siehe Einheit Medien.Rezeption). Sie kann auch in entsprechenden Medieninhalten reflektiert werden, indem analysiert wird, wie sich die eigene Referenzgruppe verhalten würde oder wie über eigene Gruppenzugehörigkeiten gesprochen wird. Identitäten können auch entwickelt werden, indem Vorbilder gesucht werden, die zeigen, wie man mit den jeweiligen Lebensstilentscheidungen umgehen kann (vgl. Wulf et al. 2023). Man beantwortet sich die Frage danach, wer man ist, fast automatisch auch damit, welchen sozialen Gruppen man zugehörig ist. Daher lässt sich die Identität gut spiegeln, indem man sich mit den Eigenschaften der eigenen Gruppe in Abgrenzung von anderen Gruppen beschäftigt (Social Identity Theory; vgl. Wulf et al. 2023; siehe Abb. 5.1). Man wählt Medieninhalte, die die eigenen Interessen, Probleme und Vorstellungen widerspiegeln. Dies führt Personen die eigenen Identitätsvorstellungen gleichsam offensichtlicher vor Augen und lässt sie nochmals verstärkt nach entsprechenden Medieninhalten suchen (Reinforcing Spirals). So kommt es auch zu einem sogenannten Selective-Exposure-Effect, da Personen gern Medieninhalte wählen, die ihren eigenen Ansichten entsprechen, und diejenigen meiden, die ihren eigenen Anschauungen widersprechen. Dies mag den Effekt haben, dass die unzähligen zur Verfügung stehenden Medieninhalte auf eine überschaubare Menge reduziert werden (vgl. Wulf et al. 2023). Hierüber ist es leichter möglich, eine als kohärent empfundene Identität zu entwickeln. Gleichzeitig kann dieser Effekt aber auch zu Desinformation (s.u. Risiken medialer Desinformation) und Radikalisierung (s.u. Medien und Meinungsbildung) führen. Verstärkt wird er durch Algorithmen, die den User*innen in den sozialen Medien die Inhalte anzeigen (technisch ausgedrückt: »in die Timeline bzw. den Feed speisen«), die vorher angeklickten und/oder gelikten Inhalten ähnlich sind (siehe Einheit Medien.Daten).

Take Home Messages

  • Die Identitätsbildung in der Mediengesellschaft wurde durch die Postmoderne und Globalisierung befördert.
  • Die postmoderne Identität zeichnet sich durch ihre kontextspezifischen Entwicklungsmöglichkeiten und ihren Facettenreichtum aus.
  • Digitale Medien spielen in Bezug auf Identitätsbildung eine große Rolle, da sie einen Referenzrahmen zum Selbst- und Fremdabgleich bieten.
  • Medien bieten die Chance, eine stimmige Ich-Identität zu finden, da Medieninhalte vorgefiltert werden (aber siehe auch: Risiken).
  • Ein bedeutender Unterschied in der Kultur der Digitalität im Vergleich zum analogen Zeitalter ist die Möglichkeit des Selbstausdrucks: Alle werden zu Medienproduzierenden.